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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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sich ein Knopf. Wenn du auf diesen Knopf drückst, stirbt der Mann. Tust du es nicht, tötet er deine Mutter. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten. Wenn du nichts tust, stirbt deine Mutter. Wenn du auf den Knopf drückst, stirbt der Mann, und deine Mutter ist gerettet. Was würdest du tun?«
    »Den Typen erledigen«, antwortete ich ohne Zögern.
    »So ist es«, seufzte er und wünschte sich womöglich, ich hätte einen Moment lang mit der Entscheidung gerungen, bevor ich auf den imaginären Knopf drückte. »Und wenn du das tätest, wenn du deine Mutter vor diesem Mörder retten würdest, wäre das dann richtig oder falsch?«
    »Richtig«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
    »Nein, Lin, ich fürchte, das wäre es nicht«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Wir haben gerade gesehen, dass es nach dieser neuen, objektiven Definition von Gut und Böse immer falsch ist zu töten, denn wenn jeder es täte, würden wir uns nicht mit dem restlichen Universum auf Gott, die ultimative Komplexität, zubewegen. Deshalb ist es nicht richtig zu töten. Aber du hattest einen guten Grund. Deshalb liegt die Wahrheit dieser Entscheidung darin, dass du aus den richtigen Gründen das Falsche getan hättest …«
    Als ich mich eine Woche nach Khaders kleiner Ethikvorlesung unter einem Himmel voll düsterer dräuender Wolken mit dem Motorrad durch den Verkehr schlängelte, hallten seine Worte in meinem Kopf wider. Das Falsche … aus den richtigen Gründen. Selbst als ich irgendwann aufhörte, über Khaders Unterweisung nachzudenken, klangen seine Worte in jener kleinen grauen Tagtraumecke nach, wo Erinnerung und Inspiration aufeinandertreffen. Heute weiß ich, dass diese Worte wie ein Mantra waren und dass mein Instinkt – das Raunen des Schicksals in der Dunkelheit – mich durch die Wiederholung vor etwas warnen wollte. Das Falsche … aus den richtigen Gründen.
    Doch an jenem Tag, eine Stunde nach Didiers Bekenntnissen, überhörte ich das warnende Gemurmel vorsätzlich. Richtig oder falsch? Ich wollte nicht über Gründe nachdenken – weder über meine eigenen Gründe für mein Handeln noch über die Beweggründe von Khader oder sonst wem. Mir gefielen unsere Diskussionen über Gut und Böse durchaus, aber nur als Spiel, als Unterhaltung. An der Wahrheit war ich nicht wirklich interessiert. Ich hatte genug von der Wahrheit, besonders meiner eigenen, und wollte mich ihr nicht stellen. Und so ließ ich meine Gedanken und Vorahnungen verwehen, und der feuchte Wind riss sie mit sich fort. Als ich mich in die letzte Kurve der Küstenstraße vor dem Sea Hotel legte, war mein Kopf so klar wie der weite Horizont über der dunklen, bebenden See.
    Das Sea Rock bot den gleichen Luxus und exzellenten Service wie alle anderen Fünf-Sterne-Hotels in Bombay, besaß jedoch überdies die Attraktion, dass es direkt auf der Felsküste von Juhu gelegen war. Von allen Restaurants und Bars und etlichen Zimmern hatte man Aussicht auf die Wellenkämme und -täler des endlos wogenden Arabischen Meers. Außerdem gab es hier eines der besten und vielseitigsten Mittagsbüfetts der Stadt. Ich hatte Hunger und war froh, dass Lisa mich bereits im Foyer erwartete. Sie trug ein gestärktes himmelblaues Hemd mit hochgeklapptem Kragen und einen himmelblauen Hosenrock. Ihr blondes Haar war zu einem französischen Zopf geflochten. Wie zum Gebet gefaltete Finger, dachte ich. Lisa war jetzt seit über einem Jahr clean. Sie war sonnengebräunt und sah gesund und selbstbewusst aus.
    »Hi, Lin!« Sie begrüßte mich mit einem Lächeln und küsste mich auf die Wange. »Du kommst genau richtig.«
    »Gut. Ich bin am Verhungern.«
    »Nein, ich meine, genau richtig, um Kalpana zu treffen. Augenblick – da kommt sie.«
    Eine junge Frau mit modischem westlichem Kurzhaarschnitt, Lowcut-Jeans und einem engen roten T-Shirt kam auf uns zu. Sie trug eine Stoppuhr an einer Kordel um den Hals und hatte ein Klemmbrett in der Hand. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig.
    »Hallo«, sagte ich, als Lisa uns vorstellte. »Ist das eure Ausrüstung da draußen? Die Übertragungswagen und die ganzen Kabel? Dreht ihr gerade einen Film?«
    »Eigentlich schon, yaar«, antwortete sie und dehnte dabei die Vokale wie alle Bombayer. Ich liebte diesen Akzent so sehr, dass ich ihn unbewusst imitierte. »Nur dass der Regisseur gerade mit einer der Tänzerinnen verschwunden ist. Keiner soll es wissen, yaar, aber das ganze Team redet darüber. Wir haben eine Dreiviertelstunde Pause. Wobei

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