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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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ihr Leben stünde ohnehin unter einem glücklichen Stern. Doch ich irrte mich. Diese Bemerkung hatte mehr zu bedeuten. Natürlich hätte ich ihn fragen sollen, was er damit meinte. In den langen Jahren seit dieser Unterhaltung habe ich mich tausendmal gefragt, ob mein Leben nicht ganz anders verlaufen wäre, wenn ich ihn gefragt hätte, wie diese Bemerkung gemeint war. Doch stattdessen wechselte ich das Thema – den Kopf voller Vermutungen und das Herz voller Stolz.
    »Wie ist das Ganze denn dann ausgegangen?«
    »Ausgegangen?«, fragte er verwirrt.
    »Ich meine, mit dir und Rinaldo in Genua?«
    »Ach so. Er hat mich geliebt, und ich habe ihn auch geliebt, aber in einem Punkt hat er sich gewaltig getäuscht: Er hat meine Liebe nämlich auf die Probe gestellt. Er hat zugelassen, dass ich ein Geheimversteck fand, wo er eine große Summe Bargeld aufbewahrte. Ich konnte dieser Versuchung nicht widerstehen. Ich habe das Geld genommen und bin abgehauen. Ich habe ihn geliebt – und doch habe ich sein Geld gestohlen und bin abgehauen. So weise er auch war, Rinaldo wusste nicht, dass man Liebe nicht auf die Probe stellen kann. Man kann Ehrlichkeit auf die Probe stellen oder Treue. Aber für die Liebe gibt es so eine Probe nicht. Wenn die Liebe erst einmal da ist, besteht sie ewig, selbst wenn wir den Geliebten irgendwann hassen. Die Liebe besteht ewig, weil sie in dem Teil von uns geboren wird, der unsterblich ist.«
    »Hast du ihn je wiedergesehen?«
    »Ja. Fast fünfzehn Jahre später hat es mich noch einmal nach Genua verschlagen. Ich bin denselben Küstenstreifen entlanggegangen, auf dem er mir damals Rimbaud und Verlaine nahegebracht hatte. Und plötzlich sah ich ihn. Er saß in einer Gruppe gleichaltriger Männer – er war inzwischen über sechzig –, die zwei alten Männern beim Schachspielen zuschauten. Er trug eine graue Strickjacke und einen schwarzen Samtschal, obwohl es überhaupt nicht kalt war. Und er hatte fast keine Haare mehr. Der silberne Haarkranz war … verschwunden. Sein Gesicht sah hohl und eingefallen aus, und seine Haut war ein Gemisch aus ungesunden Farben. Er machte den Eindruck, als hätte er gerade eine schlimme Krankheit überstanden. Aber vielleicht erlag er ihr auch gerade. Ich weiß es nicht. Ich ging mit abgewandtem Blick an ihm vorbei, damit er mich nicht erkannte. Zur Tarnung habe ich sogar vorgetäuscht zu humpeln. Im letzten Moment habe ich mich nach ihm umgedreht und gesehen, wie er heftig in ein weißes Taschentuch hustete. Auf dem Taschentuch waren Flecken, und ich glaube, es war Blut. Ich bin immer schneller gegangen und schließlich sogar gerannt. Panisch. Angstvoll.«
    Wieder saßen wir eine Weile schweigend da und ließen den Blick über den belebten Gehweg schweifen, sahen mal einem Mann mit blauem Turban nach, mal einer Frau im schwarzen Tschador.
    »Weißt du, Lin, ich habe ein Leben hinter mir, das viele Leute – die Meisten wahrscheinlich – als verwerflich bezeichnen würden. Ich habe Dinge getan, für die ich ins Gefängnis kommen könnte, und andere, für die man mich in manchen Ländern womöglich hinrichten würde. Auf vieles von dem, was ich getan habe, bin ich nicht gerade stolz. Aber es gibt nur eine Tat in meinem Leben, für die ich mich wirklich schäme. Ich bin an diesem großen Mann vorbeigelaufen, obwohl ich das Geld, die Zeit und die Kraft gehabt hätte, ihm zu helfen. Und ich bin nicht etwa deshalb an ihm vorbeigelaufen, weil ich ein schlechtes Gewissen wegen des Diebstahls gehabt hätte. Auch nicht, weil ich Angst vor seiner Krankheit hatte oder vor den Verpflichtungen, die ich hätte eingehen müssen. Ich bin an diesem anständigen und brillanten Mann, der mich geliebt und mir beigebracht hat, mich selbst zu lieben, nur deshalb vorbeigelaufen, weil er alt war – weil er kein schöner Mann mehr war.«
    Er schüttete seinen Whisky hinunter, starrte einen Moment lang in das leere Glas und stellte es dann so sachte und behutsam auf den Tisch, als könnte es jeden Moment explodieren.
    »Merde! Lass uns trinken, mein Freund!«, rief er schließlich, doch ich legte meine Hand auf seine und hielt ihn davon ab, den Kellner herbeizuwinken.
    »Ich kann nicht, Didier. Ich muss zum Sea Rock Hotel. Lisa hat mich gebeten, sie dort zu treffen. Wenn ich das noch schaffen will, muss ich jetzt los.«
    Er unterdrückte eine Bemerkung – eine Bitte vielleicht oder ein weiteres Geständnis. Meine Hand lag immer noch auf seiner.
    »Hör mal, wenn du Lust hast, komm doch mit.

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