Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
hatte. Auf dem Weg vom Leopold’s zu meiner Verabredung mit Lisa ließ ich die Erklärung des großen Khan noch einmal Wort für Wort und Lächeln für Lächeln Revue passieren.
    »Du verstehst also das Grundprinzip meiner bisherigen Argumentation?«
    »Ja«, erwiderte ich. An diesem Abend vor einer Woche war ich zu Khader in seine Villa in Dongri gekommen, um ihm von den Neuerungen zu berichten, die ich in Abdul Ghanis Passwerkstatt angeregt und in die Wege geleitet hatte. Mit Ghanis Zustimmung und Unterstützung hatten wir die Aktivitäten auf eine ganze Palette weiterer Dokumente ausgedehnt – Führerscheine, Scheckkarten, Kreditkarten, selbst Mitgliedsausweise von Sportvereinen. Khader war von diesen neuen Entwicklungen sehr angetan, lenkte das Gespräch jedoch bald auf seine Lieblingsthemen: auf den Unterschied zwischen Gut und Böse und den Sinn des Lebens.
    »Vielleicht könntest du es mir noch einmal darlegen«, schlug er vor und nickte zur Bekräftigung, den Blick auf die spielerisch plätschernde Fontäne des Springbrunnens gerichtet. Er hatte die Ellbogen auf die Armlehnen seines weißen Rohrstuhls gestützt und hielt die Fingerspitzen, die er wie ein Tempeldach aneinandergelegt hatte, vor seine Lippen und den silbergrauen Schnurrbart.
    »Äh – ja, gern. Du hast gesagt, dass sich das ganze Universum auf eine Art endgültige Komplexität zubewegt, und zwar schon seit seinen allerersten Anfängen. Die Wissenschaftler nennen das die ›Tendenz zur Komplexität‹. Und … alles, was diese Entwicklung befördert und unterstützt, ist gut, alles, was sie hemmt und behindert, ist böse.«
    »Sehr gut«, sagte Khaderbhai und zog eine Augenbraue hoch, während er mich lächelnd ansah. Wie so oft war ich mir nicht sicher, ob sich in seiner Miene Anerkennung oder Spott oder beides zugleich ausdrückte. Khader schien bei jedem Gefühl auch immer zugleich das Gegenteil zu empfinden. Bis zu einem gewissen Grad ist das wahrscheinlich bei uns allen so. Doch bei ihm, bei Lord Abdel Khader Khan, war es unmöglich zu erkennen, was er tatsächlich über einen dachte oder fühlte. Und als ich ein einziges Mal die ganze Wahrheit in seinen Augen sah – auf einem schneebedeckten Berg namens Sorrow’s Reward –, war es bereits zu spät. Danach sah ich sie nie wieder.
    »Und diese endgültige Komplexität«, fügte er hinzu, »kann man Gott nennen oder den universalen Geist oder eben die ultimative Komplexität, ganz wie es einem beliebt. Ich persönlich habe kein Problem damit, sie Gott zu nennen. Das ganze Universum bewegt sich also auf Gott zu: Es befindet sich in einer permanenten Entwicklung hin zur ultimativen Komplexität, die Gott ist.«
    »Bleibt aber immer noch die Frage, die ich letztes Mal gestellt habe: Woran erkennt man, ob etwas gut oder böse ist?«
    »Richtig. Und ich habe dir eine Antwort auf diese ausgezeichnete Frage versprochen, junger Freund, die du auch bekommen sollst. Doch zuerst musst du mir eine Frage beantworten: Warum ist es nicht richtig zu töten?«
    »Na ja, ich finde schon, dass es manchmal richtig sein kann.«
    »Ah«, sagte er versonnen und lächelte mehrdeutig. Seine bernsteinfarbenen Augen glitzerten. »Nun, ich muss dir sagen, dass du nicht recht hast. Es ist nie richtig. Das wirst du später in unserem Gespräch merken. Aber nehmen wir zunächst einmal die Fälle, in denen das Töten deiner Ansicht nach tasächlich nicht richtig ist. Warum ist es in diesen Fällen so?«
    »Na ja, weil es rechtswidrig ist.«
    »Gegen wessen Recht verstößt es?«
    »Gegen das Recht einer bestimmten Gesellschaft. Oder eines Landes«, erwiderte ich, hatte dabei jedoch das Gefühl, den philosophischen Boden unter den Füßen zu verlieren.
    »Und wer schafft dieses Recht?«, fragte er sanft.
    »Also, die Gesetze werden von Politikern erlassen. Das Strafrecht ist ein Erbe der … der Zivilisation. Die Gesetze, die das Töten verbieten, gibt es schon ewig lange – vielleicht schon seit der Steinzeit.«
    »Und warum galt das Töten damals als falsch?«
    »Du meinst … Na ja, ich würde sagen, weil jeder Mensch nur ein Leben hat. Man hat nur eine Chance, und es ist schrecklich, jemanden um diese Chance zu bringen.«
    »Ein Unwetter ist auch schrecklich. Ist es deswegen unrecht oder böse?«
    »Nein, natürlich nicht«, antwortete ich etwas gereizt. »Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum wir überhaupt wissen müssen, was hinter den Gesetzen gegen das Töten steht. Wir haben nur ein Leben, und wenn man

Weitere Kostenlose Bücher