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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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vorgehalten hatte, dass er sich unreif verhalte, hatte er geantwortet, er sei stolz und froh, unreif zu sein. Ein ausgereifter Mensch, hatte er damals gesagt, hat noch etwa zwei Sekunden zu leben.
    All diese Gedanken kreisten ruhelos in meinem Kopf wie die Stahlkugeln in Captain Queegs Hand. Natürlich war es der Anblick des Messers, der die Erinnerung an frühere Kämpfe in mir heraufbeschwor. Ich musste unwillkürlich an die Intensität des Augenblicks denken, in dem zugestochen wurde. Ich erinnerte mich an die Stahlklingen, die mich aufgeschlitzt hatten, die in meinen Körper eingedrungen waren. Ich konnte sie noch in meinem Fleisch spüren. Es fühlte sich wie eine Verbrennung an. Es war wie Hass. Es war wie der bösartigste Gedanke der Welt. Ich schüttelte den Kopf, holte tief Luft und sah Maurizio wieder an.
    Möglicherweise hatte das Messer seine Lunge durchbohrt und das Herz getroffen. Jedenfalls hatte es ihm ein schnelles Ende bereitet. Er war vornüber auf die Couch gesunken und hatte sich dann praktisch nicht mehr bewegt. Ich griff in sein dichtes schwarzes Haar und hob seinen Kopf. Die toten Augen waren halb geschlossen, die Lippen zu einem zähnebleckenden Lächeln geöffnet. Es war auffällig wenig Blut zu sehen. Die Couch hatte das Meiste davon aufgesaugt. Das Ding muss raus, hörte ich mich denken. Der Teppich hatte nicht viel abgekriegt und konnte gereinigt werden. Auch sonst hatten die Gewalttätigkeiten relativ wenige Spuren im Wohnzimmer hinterlassen. Ein Bein des Kaffeetischs war abgebrochen, und die Schlösser an der Wohnungstür waren aus ihrer Halterung gerissen. Ich wandte meine Aufmerksamkeit den Frauen zu.
    Ulla hatte eine Schnittwunde im Gesicht, vom Wangenknochen fast bis zum Kinn. Ich säuberte die Wunde und drückte die Ränder über die ganze Länge mit Heftpflaster zusammen. Es war kein tiefer Schnitt, und er würde vermutlich schnell heilen, doch ich war mir sicher, dass eine Narbe zurückbleiben würde. Zufällig war die Klinge der natürlichen Rundung ihrer Kieferpartie gefolgt und hatte damit ihre Gesichtsform quasi nachgezeichnet. Ullas Schönheit wurde durch die Verletzung zwar beeinträchtigt, aber nicht zerstört. Ihre Augen waren unnatürlich weit aufgerissen und von einem Grauen erfüllt, das nicht weichen wollte. Neben ihr auf der Armlehne der Couch lag ein Lungi. Ich legte ihn ihr um die Schultern, und Lisa reichte ihr eine Tasse heißen Tee mit viel Zucker. Als ich eine Decke über Maurizios Leiche breitete, erschauerte Ulla. Ihr Gesicht verzerrte sich, und endlich kamen die Tränen.
    Lisa war ruhig. Trotz der feuchtheißen, windstillen Nacht trug sie einen Pullover und Jeans wie ein echter Bombayer. An einem Auge und auf der Wange zeichneten sich zwei Blutergüsse ab. Als Ulla sich beruhigt hatte, stellten Lisa und ich uns neben die Tür am anderen Ende des Zimmers, wo sie uns nicht hören konnte. Lisa nahm sich eine Zigarette, beugte sich über das brennende Streichholz, das ich ihr hinhielt, blies den Rauch aus und sah mir dann, zum ersten Mal seit ich die Wohnung betreten hatte, direkt in die Augen.
    »Gut, dass du gekommen bist. Gut, dass du da bist. Ich konnte nicht anders. Ich musste es tun, er –«
    »Hör auf, Lisa!«, unterbrach ich sie, aber mit sanfter und gedämpfter Stimme. »Du hast ihn nicht erstochen. Das war sie. Ich sehe es in ihren Augen. Ich kenne diesen Ausdruck. Sie ist immer noch dabei, ihn zu erstechen, sie spielt das Ganze in Gedanken immer wieder durch. So wird sie noch eine Weile aussehen. Du versuchst sie zu schützen, aber du hilfst ihr nicht, wenn du mich anlügst.«
    Sie lächelte. Unter den gegebenen Umständen war es ein wunderbares Lächeln. Hätten wir nicht neben einem Toten mit einem Messer im Herz gestanden, hätte ich es unwiderstehlich gefunden.
    »Was ist passiert?«
    »Ich will nur nicht, dass ihr wehgetan wird«, sagte sie ruhig und presste die Lippen zu einem schmalen, grimmigen Strich zusammen.
    »Das will ich auch nicht. Was genau ist passiert?«
    »Er ist hier reingeplatzt und mit dem Messer auf sie losgegangen. Er war völlig ausgerastet. Stand total neben sich. Ich glaube, der war auf irgendeinem Trip. Er hat sie angeschrien, und sie konnte nicht antworten. Sie war auch total daneben, sogar noch mehr als er. Bevor er hier eingebrochen ist, habe ich mich eine Stunde mit ihr unterhalten. Sie hat mir von Modena erzählt. Kein Wunder, dass sie fix und fertig war. Das ist … verdammt, Lin, das ist wirklich eine üble

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