Shantaram
Er begann zur Tür zu kriechen. Ich wusste nicht, ob er flüchten oder mich erneut attackieren wollte, und ließ es nicht darauf ankommen. Ich rappelte mich auf, bekam seinen Gürtel zu fassen und stach ihn mehrmals in den Oberschenkel. Immer wieder stieß ich auf Knochen. Dann ließ ich den Gürtel los und tastete mit der linken Hand nach dem Messer des Typen.
Er schrie nicht, das muss man ihm lassen. Er brüllte, dass ich aufhören solle und dass er aufgebe, aber er gab keine Angstschreie von sich. Also hörte ich auf. Ich ließ ihn leben und rappelte mich hoch. Er versuchte wieder zur Tür zu kriechen. Ich setzte ihm den Fuß in den Nacken und trat zu. Ich musste ihn davon abhalten zu fliehen. Wenn er aus der Wäscherei entkam, solange ich noch drin war, und die Wachen ihn sahen, würde ich sechs Monate oder länger im Straftrakt zubringen.
Während er stöhnend auf dem Boden lag, entledigte ich mich meiner blutverschmierten Kleider und zog eine saubere Kluft an. Einer der Häftlinge aus der Putzkolonne stand vor der Tür und schaute fröhlich grinsend zu uns herein. Ich reichte ihm das Bündel meiner besudelten Kleider. Er schmuggelte sie in seinem Putzeimer weg und warf sie hinter der Küche in den Verbrennungsofen. Einem anderen Mitgefangenen gab ich auf dem Weg aus der Wäscherei die beiden Waffen, die er dann im Gefängnisgarten vergrub. Nachdem ich verschwunden war, schleppte sich der Typ, der versucht hatte, mich umzubringen, zum Büro des Gefängnisdirektors und brach dort zusammen. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Er hielt übrigens den Mund, auch das muss ich ihm zugute halten. Er war ein brutaler Schläger, der seine Mitgefangenen schikanierte und der ohne jeden Grund versucht hatte, mich zu töten – aber er war kein Denunziant.
Als ich endlich allein in meiner Zelle war, inspizierte ich meine Wunden. Der Schnitt am Unterarm hatte eine Vene durchtrennt. Ich konnte aber nicht zum Gefängnisarzt gehen, denn man hätte die Verbindung zwischen mir, dem Kampf und dem verletzten Mann sofort hergestellt. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass der Schnitt von selbst heilen würde. Ich hatte aber noch eine andere, tiefe Wunde abgekriegt, die sich von der linken Schulter bis zur Mitte der Brust zog. Auch das war ein sauberer Schnitt, der heftig blutete. Ich verbrannte zwei Päckchen Zigarettenpapier in einer Metallschüssel und rieb die weiße Asche in beide Wunden. Es tat weh, doch die Asche verschloss die Wunde sofort und stillte die Blutung.
Obwohl ich mit niemandem darüber redete, hatte sich schnell herumgesprochen, dass es einen Kampf gegeben und dass ich die Bewährungsprobe bestanden hatte. Die weiße Narbe auf meiner Brust, die meine Mitgefangenen jeden Tag im Duschraum sahen, führte ihnen meine Kampfbereitschaft vor Augen. Sie wirkte als Warnung, wie die breiten Streifen bei einer Seeschlange. Ich habe sie immer noch, diese Narbe. Und nach all den Jahren ist sie noch genauso lang und weiß wie damals. Und funktioniert immer noch als Warnsignal. Wenn ich sie berühre, sehe ich wieder den Mörder um sein Leben flehen. Und ich erinnere mich, wie ich in seinen riesigen angsterfüllten Augen, diesem Spiegel des Schicksals, das vom Hass entstellte Wesen sah, zu dem ich im Kampf geworden war.
Mein erster Messerkampf war nicht mein letzter geblieben, und als ich nun vor Maurizio Belcanes Leiche stand, überfiel mich die eisige Erinnerung an all die früheren Messerstechereien. Maurizio war in die Knie gegangen, bevor er starb, und sein Oberkörper hing halb über der Couch. Neben seiner schlaffen, leicht gekrümmten rechten Hand lag ein rasiermesserscharfes Stilett auf dem Teppich. In seinem Rücken, links der Wirbelsäule und direkt unterhalb des Schulterblatts, steckte bis zum Schaft ein Tranchiermesser mit schwarzem Griff. Ich kannte dieses Messer, es war lang, breit und scharf – ich hatte es in Lisas Hand gesehen, als Maurizio zum ersten Mal den Fehler gemacht hatte, ungebeten in ihrer Wohnung zu erscheinen. Damals hätte er seine Lektion lernen sollen. Aber wer tut das schon. Das macht nichts, sagte Karla einmal, denn wenn wir alle gleich beim ersten Mal lernen würden, was wir lernen sollen, dann bräuchten wir die Liebe nicht mehr. So, wie er jetzt mit dem Gesicht in seinem eigenen Blut lag, hatte Maurizio die Lektion auf die harte Tour lernen müssen. Er war das, was Didier einen ausgereiften Mann nannte. Als ich Didier einmal
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