Shantaram
dass der Nigerianer zurückkommen und ihm den Garaus machen könnte, schaffte Maurizio Belcane es nicht, die Stadt zu verlassen, um noch Schlimmeres zu vermeiden. Er konnte seine mörderische Wut auf Modena und seine selbstgerechte Gier nach dem Geld, das sie gemeinsam gestohlen hatten, nicht aus seinem Herzen bannen. Wochenlang beobachtete er Ulla und folgte ihr überallhin. Er wusste, dass Modena früher oder später Kontakt mit ihr aufnehmen würde. Als Modena sie dann tatsächlich anrief, fuhr Ulla zu ihm und führte so unwillentlich den wahnsinnigen Maurizio zu der Absteige in Dadar, in der sein ehemaliger Partner sich versteckte. Maurizio drang in das Hotelzimmer ein, fand Modena jedoch alleine vor. Ulla war weg. Das Geld war weg. Und Modena war krank. Irgendeine Krankheit hatte ihm übel zugesetzt. Ulla vermutete, dass es Malaria gewesen sein könnte. Maurizio knebelte Modena, fesselte ihn an sein Krankenbett und machte sich mit dem Stilett ans Werk. Modena war jedoch zäher als vermutet und wortkarg bis zum Schluss – er weigerte sich strikt, Maurizio zu sagen, dass Ulla sich mit dem ganzen Geld nur wenige Schritte entfernt in einem Nachbarzimmer versteckt hielt.
»Als Maurizio mit dem Messer aufgehört hat, mit dem Stechen und Schlitzen … als er gegangen ist, da habe ich noch lange gewartet«, sagte Ulla. Sie starrte auf den Teppich, zitterte unter ihrer Decke. Lisa saß zu ihren Füßen auf dem Boden. Sie nahm Ulla sachte das Glas aus der Hand und reichte ihr eine Zigarette. Ulla griff danach, zündete sie jedoch nicht an. Sie schaute Lisa in die Augen, dann hob sie den Kopf, um Abdullah und mir ins Gesicht zu sehen.
»Ich hatte solche Angst«, sagte sie flehentlich. »Ich hatte zu viel Angst. Nach einer Weile bin ich in das Zimmer gegangen, und da habe ich ihn gesehen. Er war ans Bett gefesselt und konnte nur den Kopf bewegen. Er war voller Schnittwunden. Im Gesicht. Am Körper. Überall. Und alles war voller Blut. So viel Blut. Er hat mich angestarrt mit seinen schwarzen Augen, hat geglotzt und geglotzt. Ich hab ihn liegen lassen und bin … bin … weggelaufen.«
»Du hast ihn einfach da liegen lassen?«, fragte Lisa ungläubig.
Sie nickte.
»Und hast ihn nicht mal losgebunden?«
Ulla nickte abermals.
»Großer Gott!«, stieß Lisa angewidert hervor. Sie schaute auf und blickte gequält zwischen Abdullah und mir hin und her. »Diesen Teil hat sie mir nicht erzählt.«
»Ulla, hör mir zu«, sagte ich. »Glaubst du, dass er immer noch dort liegen könnte?«
Sie nickte ein drittes Mal. Ich sah Abdullah an.
»Ich habe einen guten Freund in Dadar«, sagte er. »Wo genau ist das Hotel? Wie heißt es?«
»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Es ist neben einem Markt. Hintendran, wo sie den ganzen Abfall hinschmeißen. Es stinkt furchtbar. Nein, Moment mal, ich weiß es doch, ich habe den Namen ja im Taxi gesagt: Kabir heißt es. Genau. So heißt das Hotel. Oh Gott! Als ich da weggegangen bin, habe ich einfach gedacht … Ich war mir sicher, dass ihn jemand finden würde und … und ihn befreien würde. Glaubt ihr, er liegt immer noch auf diesem Bett? Glaubt ihr das wirklich?«
Abdullah rief einen Freund an und veranlasste, dass jemand sich in dem Hotel umsah.
»Wo ist das Geld?«, fragte ich.
Sie zögerte.
»Das Geld, Ulla. Gib es mir.«
Sie stand mit wackeligen Beinen auf, von Lisa gestützt, und ging in ihr Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einer Reisetasche wieder, die sie mir mit sonderbar widerstreitender Mimik reichte, feindselig und verführerisch zugleich. Ich öffnete die Tasche und nahm mehrere Bündel Hundert-Dollar-Scheine heraus. Ich zählte zwanzigtausend ab und steckte den Rest wieder in die Tasche. Dann gab ich ihr die Tasche zurück.
»Zehntausend sind für Hassan«, erklärte ich. »Fünftausend nehmen wir, um dir einen neuen Pass und ein Flugticket nach Deutschland zu besorgen. Von den anderen fünftausend richten wir die Wohnung wieder her und besorgen Lisa eine neue Wohnung auf der anderen Seite der Stadt. Der Rest gehört dir. Und Modena, falls er überlebt.«
Sie wollte antworten, doch ein leises Klopfen an der Tür kündigte Hassans Kommen an. Der stämmige, muskulöse Nigerianer trat ein und begrüßte Abdullah und mich herzlich. Wie wir anderen war auch er an die Hitze Bombays gewöhnt und trug eine dicke Sergejacke und flaschengrüne Jeans. Er zog die Decke von Maurizios Leiche, nahm ein Stückchen Haut zwischen die Finger, dehnte einen von Maurizios Armen und
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