Shantaram
Geschichte. Sie war völlig verstört. Na ja, und dann ist er wie ein Gorilla durch die Tür gebrochen und mit dem Messer auf sie losgegangen. Er war voller Blut – wahrscheinlich Modenas Blut. Es war echt unheimlich. Ich wollte von der Küche aus mit dem Tranchiermesser auf ihn losgehen, aber er hat mir eine aufs Auge gehauen, mit voller Wucht, und ich bin auf die Couch gefallen. Er hat sich auf mich gestürzt und wollte gerade mit seinem Schnappmesser loslegen, da hat Ulla ihn von hinten erstochen. Er war sofort tot. Es hat höchstens eine Sekunde gedauert. Wirklich. Eine Sekunde. Ratzfatz. Im einen Moment hat er mich noch angeguckt, und im nächsten war er tot. Sie hat mir das Leben gerettet, Lin.«
»Wahrscheinlich hast eher du ihr das Leben gerettet, Lisa. Wenn du nicht hier gewesen wärst, würde sie jetzt mit einem Messer im Rücken über der Couch hängen.«
Sie begann heftig zu zittern. Ich nahm sie in den Arm, hielt sie eine Weile, stützte sie. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, holte ich ihr einen Küchenstuhl, und sie setzte sich, noch immer wackelig auf den Beinen. Ich telefonierte herum und erreichte schließlich Abdullah. Nachdem ich ihm so knapp wie möglich geschildert hatte, was vorgefallen war, bat ich ihn, zu Hassan Obikwa im afrikanischen Ghetto zu fahren und ihn mit dem Auto herzubringen.
Während wir auf Abdullah und Hassan warteten, kam die ganze Geschichte nach und nach an den Tag. Ulla war plötzlich sterbensmüde, doch ich konnte sie jetzt nicht schlafen lassen. Noch nicht. Irgendwann begann sie dann tatsächlich zu reden, fügte hier und da ein Detail zu Lisas Bericht hinzu und erzählte schließlich die ganze Geschichte.
Maurizio Belcane hatte Sebastian Modena in Bombay kennen gelernt, wo sie beide ihr Geld als Zuhälter von ausländischen Prostituierten verdienten. Maurizio war einziger Sohn reicher florentinischer Eltern, die in seiner Kindheit bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Wie er Ulla regelmäßig erzählt hatte, wenn er betrunken war, hatten entfernte Verwandten ihn widerwillig aufgenommen und pflichtschuldig, aber lieblos und gleichgültig großgezogen. Mit achtzehn hatte er sich die erste Tranche seiner Erbschaft auszahlen lassen und war nach Kairo geflohen. Sieben Jahre später war das gesamte Vermögen, das seine Eltern ihm hinterlassen hatten, verprasst. Der Rest der Familie verstieß ihn – nicht nur weil er bankrott war, sondern vor allem wegen der vielen Skandale, die sein ausschweifendes Leben zwischen dem Mittleren Osten und Asien begleiteten. Mit siebenundzwanzig war er schließlich in Bombay gelandet, wo er europäischen Prostituierten Freier vermittelte.
Der Frontmann von Maurizios Gewerbe, das er in Bombay aufgezogen hatte, war der scheue, mürrische Spanier Sebastian Modena. Der Dreißigjährige spähte reiche Araber und Inder aus, die als Kunden in Frage kamen, und sprach sie an. Seine kleine, schmale Statur und seine schüchterne Art kamen ihm dabei zupass, denn sie zerstreuten die Ängste und das Misstrauen der Kunden. Ein Fünftel des eingenommenen Geldes erhielt Maurizio dann von den ausländischen Mädchen als Provision. Ulla meinte, Modena sei mit dieser ungleichen Beziehung, in der er den größten Teil der schmutzigen Arbeit erledigte und Maurizio den Löwenanteil des schmutzigen Geldes kassierte, durchaus zufrieden gewesen, weil er sich als Lotsenfisch und den großen, gutaussehenden Italiener als Hai betrachtete.
Modena kam aus völlig anderen Verhältnissen als Maurizio. Er war eines von dreizehn Kindern einer andalusischen Zigeunerfamilie und mit der Vorstellung aufgewachsen, der Kümmerling der Familie zu sein. In allem Kriminellen versiert, doch ungebildet und kaum des Lesens und Schreibens fähig, hatte er sich mit Tricks, Betrügereien und kleinen Diebstählen von der Türkei über den Iran und Pakistan bis nach Indien durchgeschlagen. Dort beklaute er Touristen, stahl jedoch nie zu viel und blieb nie lang an einem Ort. Dann lernte er Maurizio kennen, und die nächsten zwei Jahre arbeitete er für den Zuhälter und beschaffte Kunden für dessen Mädchen.
Sie hätten noch ewig so weitermachen können, wenn Maurizio nicht eines Tages mit Ulla ins Leopold’s gekommen wäre. Ulla erzählte, dass sie bereits in Modenas erstem Blick lesen konnte, wie hoffnungslos er sich gerade in sie zu verlieben begann. Sie hätte ihn darin bestärkt, sagte sie, weil sie der festen Überzeugung war, dass seine Anbetung ihr womöglich
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