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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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immer noch hellwach, spürte den Druck ihrer Lippen auf meinen, als wir uns verabschiedet hatten, und als das Telefon klingelte, war ich nicht überrascht.
    »Kannst du bitte sofort kommen?«, bat sie.
    Ich schwieg, suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, Nein zu sagen und es wie ein Ja klingen zu lassen.
    »Ich versuche schon die ganze Zeit, Abdullah zu erreichen, aber er meldet sich nicht«, fuhr sie fort, und erst jetzt nahm ich ihren verängstigten, bedrückten Ton wahr.
    »Was ist denn los? Was ist passiert?«
    »Es hat Ärger gegeben … Wir hatten Ärger …«
    »Geht es um Maurizio? Ist alles okay bei dir?«
    »Er ist tot«, murmelte sie. »Ich habe ihn umgebracht.«
    »Ist jemand bei dir?«
    »Jemand?«, wiederholte sie unsicher.
    »Ist noch jemand anders in der Wohnung?«
    »Nein. Ich meine, ja. Ulla ist da, und er eben, auf dem Boden. Das ist –«
    »Hör zu!«, befahl ich. »Schließ die Tür ab. Lasst niemanden rein.«
    »Die Tür ist kaputt«, nuschelte sie kaum hörbar. »Er hat das Schloss rausgebrochen.«
    »Okay. Schiebt irgendwas vor die Tür – einen Sessel oder so was. Und lasst ihn da stehen, bis ich komme.«
    »Ulla geht’s beschissen. Sie ist … ziemlich fertig.«
    »Das wird schon wieder. Verrammel auf jeden Fall die Tür. Ruf niemand anders an und lass niemanden rein. Mach zwei Tassen Kaffee mit viel Milch und Zucker – vier Löffel Zucker – und trink ihn mit Ulla. Gib ihr ruhig auch was Hartes zu trinken, wenn sie es braucht. Ich gehe sofort los. In zehn Minuten bin ich bei euch. Warte auf mich, und bleib möglichst ruhig.«
    Als ich durch die Nacht fuhr, durch dicht gedrängte Straßen, im Geflecht der Lichter, fühlte ich nichts: keine Angst, keine Furcht, keine Aufregung. Wenn man ein Motorrad ausfährt, gibt man so viel Gas, dass die Nadel auf dem Drehzahlmesser im roten Bereich auf Anschlag steht. Und in gewisser Weise lebten wir alle so, jeder auf seine Art: Karla, Didier, Abdullah und ich. Wir lebten bis zum Anschlag. Auch Lisa. Und Maurizio. Im roten Bereich.
    Ein holländischer Söldner in Kinshasa sagte mir einmal, er habe sich in seinem Leben nur dann nicht selbst verabscheut, wenn er sich in so extremer Gefahr befand, dass er handelte, ohne zu denken oder zu fühlen. Ich wünschte damals, er hätte mir das nicht gesagt, denn ich wusste genau, was er meinte. Und so raste ich durch die Nacht, schwebte durch die Nacht, und die Stille in meinem Herzen fühlte sich beinahe wie Frieden an.

A CHTUNDZWANZIGSTES K APITEL
     

    B ei meiner ersten Messerstecherei lernte ich, dass es zwei Arten von Menschen gibt, die sich auf einen Kampf um Leben und Tod einlassen: Die einen töten, um zu leben, die anderen leben, um zu töten. Diejenigen, die Freude am Töten haben, steigen mit mehr Wut und Kraft ein, aber diejenigen, die nur kämpfen, weil sie überleben wollen, gehen meist als Sieger aus dem Kampf hervor. Wenn der Killertyp zu verlieren beginnt, verliert er das Motiv für den Kampf aus den Augen. Wenn der Überlebenstyp zu verlieren beginnt, kämpft er umso heftiger. Und im Gegensatz zu Prügeleien werden Kämpfe mit tödlichen Waffen durch jene Gründe verloren oder gewonnen, die noch übrig sind, wenn das Blut schon fließt. Das liegt einfach daran, dass es überzeugender ist zu kämpfen, um ein Leben zu erhalten, als um eines zu beenden.
    Meine erste Messerstecherei erlebte ich im Gefängnis. Wie die meisten Kämpfe im Gefängnis begann auch dieser harmlos und endete verheerend. Mein Gegner war ein kräftiger durchtrainierter Veteran vieler Kämpfe. Er war ein Drübersteher, was bedeutete, dass er schwächere Männer für Geld und Tabak fertigmachte. Er flößte den meisten Angst ein, und da er nicht sonderlich intelligent war, hielt er diese Angst für Respekt. Ich hatte keinerlei Respekt vor ihm. Ich verachte Schlägertypen wegen ihrer Schwäche und verabscheue sie wegen ihrer Grausamkeit. Ich kenne keinen wirklich harten Mann, der sich an Schwächeren vergreift. Harte Männer hassen Schlägertypen beinahe ebenso sehr wie die Schläger die harten Männer.
    Und ich war durchaus hart. Ich war in einem Arbeiterviertel groß geworden, in dem es rau zuging, und war es seit jeher gewohnt zu kämpfen. Das wusste im Gefängnis damals keiner, weil ich kein Profiverbrecher war und keine Vorgeschichte hatte. Ich begann meine Gefängnislaufbahn als Ersttäter. Damit nicht genug, war ich auch noch ein Intellektueller, was man mir sofort anmerkte. Einige Männer hatten Respekt davor,

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