Shantaram
Verbindungsmann in Dadar hatte Neuigkeiten. Modena war von Hotelangestellten in seinem Zimmer entdeckt und so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht worden. Der Verbindungsmann hatte im Krankenhaus nachgefragt und dort erfahren, dass der schwache, schwerverletzte Mann sich selbst entlassen hätte. Zuletzt sei er gesehen worden, wie er in einem Taxi davonraste. Der Arzt, der ihn untersucht hatte, bezweifelte, dass er die Nacht überleben würde.
»Weißt du, was komisch ist?«, sagte ich, als Abdullah mir das berichtet hatte. »Ich kannte Modena, na ja … sogar ganz gut. Ich habe ihn oft im Leopold’s gesehen, sicher an die hundert Mal. Aber ich erinnere mich nicht an seine Stimme. Ich weiß nicht mehr, wie er klang. Ich höre seine Stimme nicht im Kopf, verstehst du?«
»Ich habe ihn gemocht«, sagte Abdullah.
»Das erstaunt mich.«
»Warum?«
»Ich weiß auch nicht«, sagte ich. »Er war so … unterwürfig.«
»Er wäre ein guter Soldat gewesen.«
Ich zog noch erstaunter die Augenbrauen hoch. Modena schien mir nicht nur ein Kriecher gewesen zu sein, sondern auch ein Schwächling, und ich konnte mir nicht vorstellen, was Abdullah meinte. Damals wusste ich noch nicht, dass man einen guten Soldaten nicht daran erkennt, was er anderen antun kann, sondern daran, was er aushalten kann.
Als diese ganze Geschichte endgültig abgeschlossen war, als Ulla nach Deutschland geflogen und Lisa in eine neue Wohnung gezogen war, als die letzten Fragen zu Modena, Maurizio und Ulla versiegt, verstummt, verklungen waren, da kam mir der auf geheimnisvolle Weise verschwundene Spanier immer wieder in den Sinn. Ich wickelte in den folgenden zwei Wochen zwei Abklatsch-Flüge zwischen Delhi und Bombay ab und brachte danach in einer Zweiundsiebzig-Stunden-Aktion zehn Pässe für Abdul Ghanis Netzwerk nach Kinshasa. Ich versuchte, mich permanent zu beschäftigen und ganz auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber vor meinem inneren Auge erschien immer wieder das Bild des ans Bett gefesselten Modena, der Ulla anstarrte, der ihr nachsah, als sie wegging, als sie ohne ihn mit dem Geld verschwand. Geknebelt. Außerstande zu schreien. Was musste er gedacht haben, als sie das Zimmer betrat … Ich bin gerettet … Und was musste er gedacht haben, als er das Grauen in ihrem Gesicht sah? Hatte er vielleicht noch etwas anderes in ihren Augen gelesen? Abscheu oder etwas Schlimmeres? Sah sie womöglich erleichtert aus? Schien sie froh darüber, ihn los zu sein? Und wie fühlte er sich, als sie sich umdrehte und wegging, als sie ihn zurückließ, die Tür hinter sich schloss?
Während meiner Haftzeit verliebte ich mich in eine Schauspielerin aus einer beliebten Fernsehsendung. Sie kam ins Gefängnis, um den Mitgliedern der Theatergruppe Schauspielunterricht zu geben. Zwischen uns funkte es, wie man so schön sagt. Sie war eine hervorragende Schauspielerin, und ich war Schriftsteller. Sie war Stimme und Geste. In ihr sah ich meine Worte atmen und lebendig werden. Wir verständigten uns in jener speziellen Sprache, die Künstler in aller Welt verstehen: Rhythmus und Leidenschaft. Nach einer Weile sagte sie mir, sie sei in mich verliebt. Ich glaubte ihr, und auch heute noch glaube ich, dass sie das ernst meinte. Wir nährten unsere Gefühle monatelang mit kleinen Zeithappen, die wir vom Unterricht abzweigten, und langen Briefen, die ich ihr über das geheime Postsystem im Gefängnis zukommen ließ.
Dann flog die Sache auf, und ich wurde – im wörtlichen Sinne – in den Straftrakt geworfen. Ich weiß nicht, wie die Wachteln von unserer Romanze erfuhren, jedenfalls begannen sie, mich danach auszufragen. Sie waren fuchsteufelswild. Für sie war die Tatsache, dass diese Schauspielerin vor ihrer Nase monatelang eine unbemerkte Affäre mit einem Gefangenen gehabt hatte, ein demütigender Affront gegen ihre Autorität, vielleicht auch gegen ihre Männlichkeit. Sie traktierten mich mit Stiefeln, Fäusten und Schlagstöcken und versuchten mich zu zwingen, die Beziehung zu gestehen. Dieses Geständnis wollten sie dann als Grundlage für eine Klage gegen die Schauspielerin benutzen. Einmal hielten sie mir ein Bild von ihr hin, während sie mich zusammenschlugen. Sie hatten es bei der Gefängnis-Theatergruppe gefunden; es war eine Autogrammkarte, auf der sie strahlend lächelte. Sie sagten, dass ich nur nicken müsse, dann würden sie sofort aufhören. Nick einfach, sagten sie, während sie mir das Bild vor mein blutiges Gesicht hielten. Nick
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