Shantaram
einfach, mehr musst du nicht tun, dann hören wir auf.
Ich gab es nicht zu, bis zum Schluss nicht. Ich verwahrte ihre Liebe im Tresor meines Herzens, während die Wachteln versuchten, diese Liebe durch meine Haut und meine Knochen zu erreichen. Und dann eines Tages, als ich in meiner Zelle saß und versuchte, das Blut zu stillen, das mir von einem lädierten Wangenknochen und meiner gebrochenen Nase in den Mund floss, ging die Klappe in meiner Zellentür auf. Ein Brief flatterte auf den Boden. Die Klappe wurde wieder geschlossen. Ich kroch zu dem Brief, hob ihn auf, kroch zu meinem Bett zurück. Er war von ihr. Es war ein Abschiedsbrief. Sie habe einen Mann kennen gelernt, schrieb sie, einen Musiker. Ihre Freunde hätten sie alle gedrängt, sich von mir zu trennen, weil unsere Beziehung angesichts meiner zwanzigjährigen Haftstrafe keine Zukunft habe. Sie liebe diesen Mann und wolle ihn heiraten, sobald er von seiner Tournee mit dem Symphonieorchester zurück sei. Sie hoffe auf mein Verständnis. Es tue ihr leid, aber dieser Brief sei ihr Lebewohl, ein endgültiges Lebewohl, und wir würden uns nie wiedersehen.
Blut tropfte von meinem malträtierten Gesicht auf das Blatt. Die Wachteln hatten den Brief natürlich gelesen, ehe sie ihn mir gaben. Sie standen vor meiner Tür und lachten. Sie lachten. Ich lauschte ihrem Gelächter, das von ihrem Sieg künden sollte, und fragte mich, ob dieser neue Mann, der Musiker, auch dann zu ihr stehen würde, wenn man ihn folterte. Vielleicht schon. Was in einem Menschen steckt, erkennt man erst, wenn ihm eine Hoffnung nach der anderen geraubt wird.
Und irgendwie vermischte sich in den Wochen nach Maurizios Tod meine Vorstellung von Modenas blutigem Gesicht, dem geknebelten Mund und den weit aufgerissenen Augen zunehmend mit meiner Erinnerung an jene Liebe, die ich im Gefängnis verloren hatte. Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum, denn es gab keinen ersichtlichen Grund, weshalb sich Modenas Schicksal im Nachhinein mit meinem verflechten sollte. Doch es war so, und ich spürte, wie sich in meinem Innern eine Düsternis breitmachte, die für Traurigkeit zu stumpf und für Wut zu kalt war.
Ich versuchte dagegen anzukämpfen, indem ich dafür sorgte, dass ich ständig beschäftigt war: Ich übernahm Statistenrollen in zwei weiteren Bollywoodfilmen, einmal als Gast einer Party, das andere Mal in einer Straßenszene. Nachmittags trainierte ich fast täglich mit Abdullah Gewichtheben, Boxen und Karate. Und ab und zu legte ich einen Tag in der Slumpraxis ein oder half Prabaker und Johnny bei ihren Hochzeitsvorbereitungen. Ich lauschte Khaderbhais Vorträgen und studierte die Bücher, Manuskripte, Pergamente und alten Tontafeln in Abdul Ghanis Privatsammlung. Doch weder Arbeiten bis zur Erschöpfung noch Zerstreuungen nutzten etwas – die Düsternis ließ sich nicht vertreiben. Und irgendwann verschmolz das Gesicht des gefolterten Spaniers, der stumme Schrei in seinen Augen, ganz und gar mit jenem Moment in meiner Erinnerung, als mein Blut auf den Brief tropfte und kein Laut meinem aufgerissenen Mund entwich. Sie bleiben uns erhalten, all diese unterdrückten Schreie, in einem verborgenen Winkel unseres Herzens. Und dorthin schleppen sich, Elefanten gleich, auch unsere gescheiterten Lieben zum Sterben. Dort gestattet sich der Stolz zu weinen. In jenen Nächten des einsamen Schlafs und in jenen Tagen des ruhelosen Grübelns begleitete mich das Bild des zur Tür starrenden Modena unentwegt.
In dieser Zeit veränderte sich auch das Leopold’s: Unsere Clique, die sich dort immer getroffen hatte, zerstreute sich nach und nach und löste sich schließlich ganz auf. Karla war weg. Ulla war weg. Modena war weg und wahrscheinlich tot. Maurizio war tot. Es kam vor, dass ich am Leopold’s vorbeiging und durch die breiten, offenen Eingänge kein einziges bekanntes Gesicht sah. Nur Didier saß weiterhin jeden Abend an seinem Lieblingstisch, tätigte seine Geschäfte und ließ sich von alten Freunden Drinks spendieren. Mit der Zeit bildete sich um ihn herum eine neue Clique, die ganz anders war als unsere ehemalige. Lisa Carter brachte eines Abends Kalpana Iyer ins Leopold’s mit, und die junge Produktionsassistentin wurde bald zum Stammgast. Vikram und Lettie waren mit den letzten Vorbereitungen für ihre Hochzeit beschäftigt und kamen fast jeden Tag auf einen Kaffee, einen Imbiss oder ein Bier vorbei. Anwar und Dilip, zwei junge Journalisten, die mit Kavita Singh zusammenarbeiteten,
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