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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Fensterläden. Die Decke des Raums bestand aus schweren ineinander verschränkten Holzbalken, die das Dach aus Lehmziegeln stützten. Dieser Anblick würde mir bald sehr vertraut sein.
    Gupta-ji nahm Geld und Anweisungen entgegen und ließ mich alleine. Es war sehr heiß direkt unter dem Dach, und ich entledigte mich meines Hemds und schaltete die Lampe aus. Das dunkle kleine Zimmer kam mir wie eine Zelle vor; eine Gefängniszelle. Ich setzte mich aufs Bett, und die Tränen kamen, beinahe sofort. Ich weinte nicht zum ersten Mal in Bombay. Ich hatte geweint nach der Begegnung mit Ranjits Leprakranken, als der Fremde im Arthur-Road-Gefängnis meinen misshandelten Körper wusch und mit Prabakers Vater im Krankenhaus. Doch dieses Leid und diese Trauer hatte ich gezügelt; irgendwie war es mir gelungen, das Schlimmste daran zurückzuhalten, die ungehemmte Flut. Doch in der kleinen dunklen Opiumzelle, in der ich nun mit meiner zerstörten Liebe für meine toten Freunde Abdullah und Prabaker saß, gab ich jeden Widerstand auf.
    Tränen bereiten manchen Männern schlimmere Qualen als Schläge. Diese Männer werden durch ihr eigenes Schluchzen schlimmer verletzt als durch Stiefel und Schlagstöcke. Tränen haben ihren Ursprung im Herzen, aber manche von uns verleugnen das Herz so hartnäckig und so lange, dass wir anstatt eines einzigen einen hundertfachen Kummer hören, wenn es schließlich zu sprechen beginnt. Wir wissen, dass Weinen sinnvoll und natürlich ist. Wir wissen, das Weinen kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke ist. Und dennoch reißt das Weinen unsere Wurzeln aus der Erde, eine festsitzende verschlungene Wurzel um die andere, und wir krachen zu Boden wie ein umstürzender Baum, wenn wir weinen.
    Gupta-ji ließ mir Zeit. Als ich schließlich das gleitende Schlurfen seiner Chappals draußen hörte, wischte ich mir den Schmerz aus dem Gesicht und schaltete die Lampe an. Er hatte alles dabei, was ich verlangt hatte – einen Stahllöffel, destilliertes Wasser, Einwegspritzen, Heroin und eine Schachtel Zigaretten – und legte die Sachen auf das kleine Tischchen neben der Pritsche. Ein Mädchen war bei ihm. Er sagte mir, sie heiße Shilpa und sei meine Dienerin. Sie war jung, noch keine zwanzig, doch ihr Gesicht war bereits gezeichnet von der Stumpfheit, die sich durch die Prostitution einstellt. Die Hoffnung kauerte in ihren Augen wie ein bissiger Köter, der entweder knurrt oder sich duckt, wenn man ihn schlägt. Ich schickte das Mädchen und Gupta-ji weg und kochte eine Probe des Heroins auf.
    Die Dosis blieb über eine Stunde in der Spritze. Fünfmal setzte ich die Nadel an einer starken gesunden Ader an und ließ sie wieder sinken. Und während der gesamten Stunde starrte ich schwitzend auf die Flüssigkeit in der Spritze. Das war sie. Die Droge des Untergangs. Der Hammer, die Droge, die mich zu dummen Gewaltverbrechen getrieben hatte; die Droge, der ich meine Familie und all meine Lieben geopfert hatte. Die Alles-und-Nichts-Droge: Sie nimmt dir alles und gibt dir nichts. Doch das Nichts, das sie dir gibt, diese Leere bar jeder Gefühle, ist manchmal das Einzige, was man noch haben will.
    Ich stach die Nadel in die Vene, zog die blutige Blüte zurück, die mir bestätigte, dass ich die Vene sauber getroffen hatte, und drückte die Spritze durch bis zum Anschlag. Noch bevor ich die Nadel aus dem Arm ziehen konnte, erstreckte sich die Sahara in meinem Kopf. Warm, trocken, hell und konturenlos, erstickte die Droge jeden Gedanken und begrub die vergessene Zivilisation meines Geistes. Und die Wärme durchströmte meinen ganzen Körper, ließ all die kleinen Plagen und Beschwerden verschwinden, die wir nüchtern tagtäglich hinnehmen und ignorieren. Es gab keinerlei Schmerzen mehr. Nur das Nichts.
    Und dann, das Bild der Wüste noch vor Augen, spürte ich, wie mein Körper in Wasser sank und wie er die Oberfläche eines erstickenden Teichs durchbrach. Eine Woche nach diesem ersten Schuss – oder war es nach einem Monat? – zog ich mich auf das Floß und trieb damit über den tödlichen Teich in dem Löffel, die Sahara im Blut. Und immer diese Dachbalken über mir: Sie wollten mir etwas mitteilen, sie wollten mir sagen, wie und warum wir alle verknüpft waren miteinander, Khader und Karla und Abdullah und ich. Wir alle waren über Abdullahs Tod in besonderer Weise untrennbar verknüpft. Das stand dort in den Balken geschrieben, in dem Schlüssel zum geheimen Code.
    Doch ich schloss die Augen.

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