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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Ich dachte an Prabaker. Ich dachte, dass er in der Nacht seines Todes so spät noch unterwegs war, weil sein Taxi ihm gehörte und er für sich selbst arbeitete. Ich hatte das Taxi für ihn gekauft. Er wäre noch am Leben, wenn ich ihm das Taxi nicht geschenkt hätte. Er war die kleine Maus, die ich in meiner Gefängniszelle mit Krümeln gefüttert und gezähmt hatte; die Maus, die gekreuzigt wurde. Und manchmal, in einer klaren Stunde, in der ich nicht high war, stand mir ein Bild von Abdullah vor Augen, Abdullah in der Minute, bevor er starb, umzingelt von seinen Mördern. Allein. Ich hätte bei ihm sein müssen. Ich war jeden Tag bei ihm gewesen. Ich hätte auch dort bei ihm sein müssen. Freunde lassen Freunde nicht einfach so sterben – alleine mit ihrem Schicksal, ihrem Tod. Und wo war seine Leiche? Wenn er nun tatsächlich Sapna gewesen war? Konnte mein Freund, der Freund, den ich liebte, wirklich dieser skrupellose wahnsinnige Schlächter gewesen sein? Was sagte Ghani? Im ganzen Haus wurden Teile von Madjids zerstückeltem Körper gefunden … Konnte ich einen Mann geliebt haben, der zu so etwas fähig war? Was hatte es zu bedeuten, dass ein kleiner Teil von mir hartnäckig fürchtete, Abdullah könnte Sapna gewesen sein – und ihn dennoch liebte?
    Ich schoss die Silberkugel erneut in meinen Arm und sank nieder auf mein Floß. Und ich sah die Antworten in den Balken über mir. Und ich war mir sicher, dass ich sie verstehen würde, mit ein bisschen mehr Stoff, und noch ein bisschen mehr und noch ein bisschen mehr.
    Ich erwachte und sah ein Gesicht über mir, das mich böse anblickte und in einer Sprache wild auf mich einredete, die ich nicht verstand. Es war ein hässliches Gesicht, ein grimmiges Gesicht, gezeichnet von scharfen Furchen um Augen, Nase und Mund. Dann bekam das Gesicht Hände, kräftige Hände, und ich merkte, wie ich vom Bett gezerrt und unsanft auf die Füße gestellt wurde.
    »Du komm !«, knurrte Nasir auf Englisch. »Du komm, jetzt !«
    »Hau …«, sagte ich langsam und legte eine Pause ein, um den Effekt zu verstärken, »ab.«
    »Du komm!«, wiederholte er. Seine Wut war so dicht an der Oberfläche, dass er zitterte und dabei unwillkürlich seine Zähne entblößte.
    »Nein«, sagte ich und drehte mich zum Bett um. »Du … gehst!«
    Er zog mich herum und packte meine Arme mit eisernem Griff.
    »Jetzt! Du komm!«
    Drei Monate lang hatte ich in diesem Raum bei Gupta-ji gelegen. Drei Monate lang täglich Heroin, dann und wann Essen, und als einzige Bewegung der kurze Gang zur Toilette und zurück. Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber ich hatte zwölf Kilo abgenommen – die besten Pfunde Muskelmasse meines Körpers. Ich war dünn und schwach und noch immer zugedröhnt von der Droge.
    »Okay«, sagte ich mit einem verlogenen Lächeln. »Okay, lass mich los, ja. Ich muss meine Sachen holen.«
    Er ließ mich los, als ich mit dem Kopf auf das Tischchen wies, auf dem meine Brieftasche, meine Uhr und mein Ausweis lagen. Gupta-ji und Shilpa standen draußen im Gang. Ich verstaute die Sachen in meinen Taschen, als wolle ich mich Nasir fügen. Als ich den Moment für richtig hielt, fuhr ich herum und versuchte ihm mit der Rechten einen Kinnhaken zu verpassen. Der ihn auch getroffen hätte, wäre ich gesund und klar im Kopf gewesen. Doch ich traf ins Leere und kam ins Schwanken. Nasir drosch mir die Faust in den Solarplexus, direkt unterm Herzen. Ich kippte vornüber, hilflos und atemlos, aber meine Knie blockierten und gaben nicht nach. Nasir griff mit der linken Hand in meine Haare, holte in Schulterhöhe mit der rechten aus, zielte und rammte mir dann mit voller Wucht die Faust aufs Kinn. Ich sah, wie Gupta-ji erschrocken die Lippen vorschob und zusammenzuckte. Dann explodierte sein Gesicht in einem Funkenschauer, und danach war die Welt dunkler als eine Höhle voll schlafender Fledermäuse.
    Das war das einzige Mal in meinem Leben, in dem mich jemand bewusstlos schlug. Der Fall schien kein Ende zu nehmen, und der Boden war meilenweit entfernt. Nach einer Weile nahm ich vage Bewegungen wahr, trieb durch Zeit und Raum und dachte: Kein Problem, alles nur ein Traum, ein Drogentraum, gleich wache ich auf und kann mir noch mehr Drogen verpassen.
    Dann landete ich wiederum unsanft auf dem Floß. Doch das Floßbett, auf dem ich drei lange Monate lang dahingedriftet war, hatte sich verändert. Es fühlte sich anders an – weich und wohltuend. Und ich nahm einen neuen wunderbaren Duft

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