Shantaram
Führer agierte, wirkte er weit weniger vertrauenerweckend. Als ich einmal während einer Marschpause zwischen kleineren Felsen einen Platz zum Pissen suchte, stieß ich auf Habib, der vor einem quaderförmigen Stein kniete und heftig die Stirn dagegen schlug. Ich stürzte zu ihm und stellte fest, dass er weinte. Das Blut von seiner aufgerissenen Stirn vermischte sich mit den Tränen und tropfte in seinen Bart. Ich goss ein wenig Wasser aus meiner Feldflasche auf einen Zipfel meines Tuchs und tupfte das Blut von Habibs Stirn, um die Verletzungen zu begutachten. Die Risse waren breit und unsauber, aber nicht tief. Habib wehrte sich nicht, als ich ihn zum Lager führte, wo Khaled sofort herbeistürzte und mir behilflich war, Habibs Stirn mit Salbe und einem Verband zu verarzten.
»Ich habe ihn alleine gelassen«, murmelte Khaled, als wir fertig waren.
»Ich dachte, er wollte beten. Er hat mir gesagt, er wollte beten. Aber ich hatte schon so ein Gefühl …«
»Ich glaube, er hat tatsächlich gebetet«, erwiderte ich.
»Ich mache mir Sorgen«, gestand Khaled und sah mich mit einem unsteten Blick an, in dem sich Kummer und Furcht mischten. »Er legt überall Fallen. Unter seinem Umhang hat er zwanzig Handgranaten versteckt. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass eine Falle kein Gewissen hat – dass darin genauso gut ein Schafhirte aus der Gegend oder einer von uns umkommen kann wie ein Russe oder ein Soldat der afghanischen Armee. Er kapiert es einfach nicht. Er grinst mich nur an und macht alles noch heimlicher. Gestern hat er ein paar von den Pferden mit Sprengstoff bepackt. Er wollte dafür sorgen, dass die Russen sie nicht kriegen, sagte er. Und was ist mit uns?, habe ich ihn gefragt. Was ist, wenn die Russen uns zu fassen kriegen? Sollen wir uns deshalb auch mit Sprengstoff bepacken? Darauf meinte er, dass er sich darüber ständig den Kopf zerbreche – wie er dafür sorgen könne, dass wir alle tot seien, bevor die Russen uns zu fassen kriegten, und wie man noch mehr Russen töten könnte, nachdem wir tot seien.«
»Weiß Khader davon?«
»Nein. Ich versuche Habib im Griff zu behalten. Ich weiß, was er durchmacht, Lin. Ich kenne das alles. In den ersten Jahren, nachdem meine Familie getötet wurde, war ich genauso verrückt wie er. Ich weiß, was in ihm vorgeht. Er ist so voller toter Freunde und Feinde, dass er nur auf ein Programm geschaltet ist – Russen umbringen. Bis er das hinter sich hat, darf man ihn nicht aus den Augen lassen.«
»Ich denke, Khader sollte das wissen«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Ich werde es ihm schon sagen«, erwiderte Khaled und seufzte. »Bald. Ich rede bald mit ihm. Es wird Habib besser gehen. Es wird jetzt schon besser mit ihm. Ich kann gut mit ihm reden. Er wird es schaffen.«
Wir alle beobachteten Habib in den folgenden Wochen argwöhnisch, und nach und nach verstanden wir, warum alle anderen Mudjahedin-Einheiten ihn ausgeschlossen hatten.
Wachsam gegenüber allen Bedrohungen von außen und innen, zogen wir nachts und manchmal auch am Tage an der Gebirgsgrenze entlang Richtung Norden, nach Pathan Khel. Unweit des khel, des Dorfes, hielten wir uns dann in nordnordwestlicher Richtung und durchwanderten eine menschenleere Gebirgsregion, die von kleinen Flüssen durchzogen war. Habib hatte eine Route gewählt, die immer in etwa gleicher Entfernung von größeren Dörfern und Städten blieb und die Hauptachsen mied. Wir schlängelten uns zwischen Pathan Khel und Khairo Thana hindurch und zwischen Humai und Haji Aagha Muhammad. Zwischen Loe Karez und Yaru überquerten wir Flüsse, und zwischen Mullah Mustafa und dem kleinen Dorf Abdul Hamid waren wir im Zickzackkurs unterwegs.
Dreimal wurden wir von einheimischen Räuberbanden angehalten, die Wegzoll forderten. Jedes Mal entdeckten wir sie zuerst auf hochgelegenen Aussichtspunkten, wo sie ihre Gewehre auf uns anlegten; kurz darauf kam die Bodentruppe aus dem Hinterhalt gesprengt, um uns den Weg abzuschneiden. Und jedes Mal erhob Khader die grünweiße Mudjahedin-Flagge mit dem Vers aus dem Koran:
Inalillahey wai na illai hi rajiao n
Von Allah kommen wir und zu Allah kehren wir zurüc k
Die Klans aus dieser Gegend kannten zwar Khaders Standarte nicht, respektierten jedoch die Geste. Aber ihre feindselige bedrohliche Haltung änderte sich jeweils erst, nachdem Khader, Nasir und die Afghanen aus unserer Truppe ihnen begreiflich gemacht hatten, dass sie unter dem Schutz eines Amerikaners unterwegs waren. Nachdem die
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