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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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fest, dass sich hinter uns eine Einheit Stammesangehörige mit Waffen postiert hatte, die auf uns gerichtet waren. Wir machten sofort Halt, Khader jedoch ritt alleine noch etwa zweihundert Meter weiter. Dann brachte er sein Pferd zum Stehen. Er saß sehr aufrecht, und die Standarte flatterte im heftigen kalten Wind.
    Eine Minute lang geschah gar nichts. Dann näherte sich eine einzelne Gestalt auf einem Kamel. In Afghanistan ist das zweihöckrige Trampeltier heimisch, doch dieser Mann ritt auf einem einhöckrigen arabischen Kamel, wie es von Kameltreibern der nördlichen Tajik-Region für extreme Kälte gezüchtet wird. Das Tier hatte einen wuschligen Haarschopf auf dem Kopf, dichtes zottiges Fell am Hals und lange kräftige Beine. Der Mann auf diesem imposanten Tier war groß und hager und schien mindestens zehn Jahre älter zu sein als Khader, der über sechzig war, aber jünger wirkte. Der Kamelreiter trug eine weiße Tunika über weißen afghanischen Hosen und eine knielange ärmellose schwarze Leinenweste. Ein schneeweißer Turban von beachtlicher Länge erhob sich majestätisch auf seinem Kopf. Sein weißgrauer Bart war um Oberlippe und Mund abrasiert, hing aber vom Kinn bis auf die schmale Brust.
    Einige meiner Freunde aus Bombay nannten einen solchen Bart einen Wahabai, nach den streng orthodoxen saudiarabischen Muslimen, die ihre Bärte so schnitten, damit sie dem des Propheten glichen. Uns besagte der Bart, dass dieser Mann über mindestens so viel moralische Autorität wie über Macht verfügte. Letztere wurde auf eindrucksvolle Weise durch das altertümliche langläufige Jezail demonstriert, das er aufrecht in die Hüfte gestützt hatte. Die hölzernen Flächen des Vorderladers waren über und über mit auf Hochglanz polierten Scheiben, Romben und Schnecken aus Messing- und Silbermünzen verziert, die glitzerten und funkelten.
    Der Mann auf dem Kamel blieb in Reichweite von Khader stehen, mit dem Gesicht zu uns. Seine Haltung war gebieterisch; er war es sichtlich gewohnt, dass ihm Respekt entgegengebracht wurde. Tatsächlich gehörte dieser Mann zu den wenigen Männern, die Abdel Khader Khan insofern ebenbürtig waren, als sie lediglich durch die Kraft ihrer Haltung und ihres entschieden gestalteten Lebens Hochachtung und vielleicht auch Verehrung erzeugten.
    Nach einer längeren Unterredung wendete Khader sein Pferd, sodass er uns alle anblickte.
    »Mister John«, rief er mich mit dem Vornamen aus meinem falschen Pass. »Kommen Sie bitte zu mir!«
    Ich trieb mein Pferd an und gab einen Laut von mir, den ich für ermutigend hielt. Dass ich von vielen Augenpaaren beobachtet wurde, war mir wohl bewusst, und einen zerdehnten lautlosen Moment lang hatte ich die Vision, dass die Stute mich vor Khader Khan zu Boden schleudern wurde. Doch sie trabte leichtfüßig und anmutig durch die Kolonne und blieb neben Khader stehen.
    »Das ist Hajji Mohammed«, verkündete Khader und beschrieb mit offener Hand einen Kreis. »Er ist der Khan, der Führer aller Stämme, aller Klans, aller Familien hier.«
    »Asalaam aleikum«, sagte ich zum Gruß und legte als Geste des Respekts die Hand aufs Herz.
    Da der Führer mich für einen Ungläubigen hielt, antwortete er nicht. Der Prophet Mohammed verlangte von seinen Anhängern, dass sie den Friedensgruß eines Gläubigen mit einem noch höflicheren Gruß beantworteten. Der Gruß Asalaam aleikum, Friede sei mit euch, hätte also wenigstens mit Wa aleikum salaam wa rahmatullah, Und mit euch sei Frieden und Allahs Erbarmen beantwortet werden müssen. Doch stattdessen starrte der alte Mann von seinem Kamel auf mich herunter und begrüßte mich mit einer schroffen Frage.
    »Wann gebt ihr uns Stinger zum Kämpfen?«
    Dieselbe Frage wurde mir, dem Amerikaner, von jedem Afghanen gestellt, seit wir die Landesgrenze passiert hatten. Khaderbhai übersetzte für mich, doch ich hatte die Worte bereits verstanden und meine Antwort vorbereitet.
    »Bald, wenn es Allahs Wille ist und der Himmel so frei ist wie die Berge.«
    Es war eine gute Antwort, die Hajji Mohammed sichtlich zufrieden stellte, aber seine Frage war weitaus besser gewesen und hätte auch eine bessere Antwort verdient als meine ausweichende Lüge. Sämtliche Afghanen von Mazare Sharif bis Kandahar wussten, dass die Mudjahedin die Russen binnen Monaten besiegt hätten, wenn die Amerikaner ihnen gleich zu Kriegsbeginn Stinger-Raketen zur Verfügung gestellt hätten. Mit Stinger-Raketen konnte man die verhassten und mörderisch

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