Shantaram
in etwa einem Kilometer Entfernung gegen den Nachthimmel abzeichneten.
»Wir gehen nicht durch die Berge«, antwortete Ahmed und deutete mit den Händen am Zügel einen kleinen Stich an. »Wir gehen darüber.«
»Darüber…«
»Oui.«
»Heute Nacht.«
»Oui.«
»Im Dunkeln.«
»Oui«, antwortete er ernsthaft. »Aber kein Problem. Habib, der fou, der Verrückte, der kennt den Weg. Er wird uns führen.«
»Ich bin wirklich froh, dass du mir das gesagt hast. Ich muss zugeben, dass ich einigermaßen beunruhigt war, aber jetzt fühle ich mich wirklich schon viel besser.«
Ahmeds weiße Zähne blitzten auf, als er lachte, und dann, auf ein Zeichen von Khaled, setzte sich die Kolonne, die fast hundert Meter lang war, in Bewegung. Zehn Mann gingen zu Fuß, zwanzig ritten, dann folgten die fünfzehn Packpferde und zehn Ziegen. Bestürzt stellte ich fest, dass Nasir zu den Männern gehörte, die zu Fuß gingen. Ich fand es absurd und unnatürlich, dass ein hervorragender Reiter wie er laufen musste, während ich reiten durfte. Ich beobachtete ihn, wie er vor mir durch die Dunkelheit schritt, beobachtete die rhythmische Bewegung seiner kräftigen, leicht gekrümmten Beine und gelobte, dass ich ihn bei der ersten Ruhepause überreden würde, mit mir zu tauschen. Es gelang mir zwar, aber nur mit solchen Mühen, dass Nasir mir finstere und gequälte Blicke zuwarf, wenn er im Sattel saß, und erst wieder zufrieden aussah, wenn wir wiederum tauschten und er, auf dem steinigen Weg einherstapfend, zu mir aufblicken konnte.
Man reitet natürlich ein Pferd nicht über einen Berg. Man schiebt und zieht es, und manchmal trägt man es auch. Als wir uns dem Fuße der kahlen Felsenklippen des Chaman-Gebirges näherten, das den südwestlichen Teil von Afghanistan von Pakistan trennt, zeigte sich, dass es in der Tat Lücken und Pfade gab, die in das Gebirge hinein und auch darüber führten. Was aus der Ferne wie glattes Felsgestein gewirkt hatte, erwies sich aus der Nähe betrachtet als ein Gebilde aus Schluchten und Abgründen. Schmale Felspfade, mit Kalk und Erde verkrustet, wanden sich zwischen den Felshängen hindurch. An einigen Stellen waren die Pfade so breit und flach, dass sie wie von Menschenhand angelegt wirkten. An anderen Stellen waren sie so zerklüftet, dass jeder Tritt von Mann oder Pferd sorgfältig erwogen werden musste. Und die ganze Prozedur, das Stolpern, Tasten, Ziehen, Schieben, um diese Bergkette zu überwinden, geschah in Finsternis.
Im Vergleich zu den einstmals gewaltigen Stammeszügen, die auf der Seidenstraße zwischen der Türkei, China und Indien unterwegs gewesen waren, stellten wir eine kleine Karawane dar, doch für Kriegszeiten waren wir eine beachtlich große Menschengruppe, und es bestand ständig Gefahr, dass wir aus der Luft entdeckt wurden. Khaderbhai verhängte strenge Auflagen: keine Zigaretten, Taschenlampen oder Fackeln auf dem Marsch. In dieser ersten Nacht stand eine breite Mondsichel am Himmel, aber gelegentlich führten uns die glitschigen Pfade zwischen hoch aufragenden Felswänden hindurch, in denen wir nur von Schatten umgeben waren. In diesen Korridoren zwischen den schwarzen Wänden konnte man nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Die ganze Kolonne schob sich blindlings durch diese Felsspalten; Menschen, Pferde, Ziegen schürften an den Felsen vorüber und prallten immer wieder aufeinander.
In einer dieser schwarzen Schluchten hörte ich plötzlich ein Heulen, das zunehmend schriller wurde. Ich hielt die Zügel meiner Stute, die sich hinter mir befand, in der rechten Hand. Den Schweif des Pferdes vor mir hatte ich um die linke Hand gewunden, und so tastete ich mich Schritt für Schritt auf dem Pfad voran, der nicht breiter war als eine Armeslänge. Als das Heulen lauter und schriller wurde, bäumten sich beide Pferde auf. Dann endete das Heulen abrupt mit einem Donnern, das den ganzen Berg erschütterte, und einer Art grellem satanischem Kreischen direkt über uns.
Das Pferd vor mir bäumte sich auf und schlug aus. Der Schweif rutschte mir aus der Hand, und als ich ihn wieder zu packen versuchte, verlor ich im Dunkeln den Halt, schürfte mit dem Gesicht an der Wand entlang und fiel auf die Knie. Meine Stute, ebenso erschreckt wie ich, wollte flüchten und drängte auf dem schmalen Pfad vorwärts. Ihre Zügel hielt ich noch in der Hand und zog mich daran hoch, aber sie rammte mich von hinten, und ich geriet aus dem Gleichgewicht und stürzte seitlich vom Weg in den Abgrund.
Weitere Kostenlose Bücher