Shantaram
Pinselstrich blieb.
Die Häuser waren uralt und baufällig. Die einstmals prächtigen, eindrucksvollen Steinfassaden waren verwahrlost, von dicken Schmutzschichten überdeckt und an einzelnen Stellen willkürlich ausgebessert. Hier und da ragten kleine Balkone in die Gasse und berührten sich fast über unseren Köpfen – Nachbarn konnten einander etwas reichen, indem sie sich vorbeugten. Wenn ich im Vorbeigehen einen Blick ins Innere eines Hauses erhaschen konnte, sah ich ungestrichene Wände und schiefe Treppen. Durch die offen stehenden Erdgeschossfenster blickte man in behelfsmäßig eingerichtete kleine Läden, in denen Süßigkeiten, Zigaretten, Lebensmittel und Haushaltswaren verkauft wurden. Dass in diesem Teil Bombays nur eine rudimentäre Wasserversorgung existierte, war auf den ersten Blick ersichtlich: Wir kamen an mehreren Stellen vorbei, wo Frauen sich mit metallenen oder irdenen Gefäßen um einen öffentlichen Wasserhahn scharten. Und alle Gebäude überzog ein komplexes Flechtwerk aus Isolierrohren und Stromkabeln wie eine metallene Spinnwebe. Hier gewann man den Eindruck, als wäre selbst dieses Symbol und Fundament des modernen Zeitalters und seiner Macht – die öffentliche Stromversorgung – nicht mehr als ein angreifbares, vergängliches Netz, das mit einer einzigen Geste weggewischt werden konnte.
So wie die enger werdenden Gassen mit jeder Windung tiefer in ein anderes Zeitalter zu führen schienen, änderte sich auch das Äußere der Menschen, je weiter wir in das Labyrinth vordrangen. Immer seltener sah ich die westlichen Baumwollhemden und -hosen, die sonst das Stadtbild prägten, und schließlich, tief im Inneren dieses Labyrinths, trugen nur noch die ganz kleinen Kinder diese Kleidung. Stattdessen waren die Männer in eine bunte Vielfalt traditioneller Gewänder gekleidet – lange Seidenhemden, die bis zu den Knien reichten und vom Hals bis zur Taille mit Perlmuttknöpfen geknöpft wurden; einfarbige oder gestreifte Kaftane; Kapuzenumhänge, die an Mönchskutten erinnerten, und eine Vielzahl unterschiedlichster Käppchen – weiß, bunt oder mit Perlen besetzt – sowie Turbane in Gelb, Stahlblau und Rot. Die Frauen waren mit auffälligem und üppigem Schmuck behängt, der in funkelndem Gegensatz zur Armut des Viertels stand, und was ihrem Geschmeide an tatsächlichem Wert abging, machte seine extravagante Gestaltung wett. Nicht weniger auffällig waren die auf Stirn, Wangen, Hände oder Handgelenke tätowierten Kastenzeichen, die ich bei manchen Frauen sah. Und jeder nackte weibliche Fuß war mit spiralförmigen Zehenringen aus Messing und Kettchen mit Silberglöckchen geschmückt.
Es schien, als hätten sich all diese Menschen nicht zum Ausgehen, sondern zu ihrer eigenen Freude so herausgeputzt; als genössen sie es, dass sie hier die Freiheit hatten, sich traditionell zu kleiden und zu präsentieren. Und die Straßen waren sauber. Die Gebäude mochten verfallen und verschmutzt sein, in den beengten Durchgängen zwischen den Häusern mochten sich Ziegen, Hühner, Hunde und Menschen drängen, jedes einzelne der schmalen Gesichter mochte die Höhlungen und Schatten des Mangels aufweisen, doch die Straßen und die Menschen waren makellos sauber.
Wir bogen in immer noch ältere Gässchen ab, die so eng waren, dass zwei Menschen nur mit Mühe aneinander vorbeikamen. Die Leute traten in Hauseingänge, um uns vorbeizulassen, ehe sie weitergingen. Die Durchgänge waren mit gespannten Planen und anderen Materialien überdacht, und in der Dunkelheit konnte man nicht weiter als ein paar Meter sehen. Ich ließ Prabaker nicht aus den Augen, denn ich befürchtete, hier allein nicht mehr herauszufinden. Der kleine Stadtführer drehte sich oft um und machte mich auf einen losen Stein auf dem Weg, eine Stufe oder irgendein Hindernis über uns aufmerksam. Und weil ich mich ganz auf diese unmittelbaren Gefahren konzentrierte, verlor ich die Orientierung. Mein geistiger Stadtplan verdrehte sich, verschwamm, verblasste, und ich hätte nicht mehr sagen können, in welcher Richtung das Meer oder die größeren Orientierungspunkte lagen, an denen wir auf dem Weg hierher vorbeigekommen waren – die Flora Fountain, die Victoria Terminus Station oder der Crawford Market. Ich war so tief in das Weben und Streben dieser engen Gassen eingetaucht, die offenen Haustüren und parfümierten Menschenkörper verströmten eine solche Intimität, dass es sich anfühlte, als ginge ich nicht einfach zwischen den
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