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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Staketenzaun nieder, unter den Zweigen eines Weißdornbuschs, und untersuchten uns gegenseitig auf Verletzungen. Die Platzwunde über meinem rechten Auge war harmloser, als ich gedacht hatte. Sie hatte aufgehört zu bluten, und es trat schon Wundsekret aus. Hier und da tat mir etwas weh, was aber nicht der Rede wert war. Prabaker hielt sich den Arm, mit dem er mich mit solch unbändiger Kraft aus dem Auto gezogen hatte, und wiegte ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht. Am Ellbogen hatte sich eine dicke Schwellung gebildet. Ich wusste, dass er einen üblen Bluterguss bekommen würde, aber gebrochen war offenbar nichts.
    »Sieht aus, als hättest du dich geirrt, Prabu«, sagte ich lächelnd und zündete ihm eine Zigarette an.
    »Geirrt, Baba?«
    »Na, du hast ja ziemlich Stress gemacht, um aus dem Auto zu kommen. Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, Mann. Ich dachte, die verdammte Kiste geht in Flammen auf. Aber ist ja noch mal gut gegangen.«
    »Oh«, erwiderte er leise, den Blick starr geradeaus gerichtet. »Hast du gedacht, dass ich hab Angst vor Feuer? Falsch gedacht, Lin! Ist es nicht Feuer in Auto – ist es Feuer in die Menschen, was ich hab Angst davor. Schaust du es an! Guckst du mal, wie sie sind, die Leute, jetzt.«
    Wir standen auf, dehnten die schmerzenden Schultern und den Nacken und blickten zu der etwa zehn Meter entfernten Unfallstelle hinüber. An die dreißig Menschen hatten sich um die vier ineinander verkeilten Autos versammelt. Einige halfen den Fahrern und Passagieren aus den Wracks. Die übrigen standen in Grüppchen zusammen, schreiend und wild gestikulierend. Aus allen Richtungen strömten noch mehr Menschen zum Unfallort. Die Fahrer, deren Fahrbahn durch den Unfall blockiert war, stiegen aus ihren Autos und mischten sich unter die Schaulustigen. Aus dreißig Menschen wurden schnell fünfzig, achtzig, dann hundert Leute.
    Ein Mann war Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – der Fahrer, der rechts abbiegen wollte und dabei von uns mit voller Wucht gerammt worden war. Er stand neben dem Taxi und brüllte vor Wut. Er war Mitte vierzig und trug einen maßgeschneiderten grauen Safarianzug aus Baumwolle, der seine gedrungene Gestalt und den stolz zur Schau getragenen Schmerbauch locker umspielte. Sein spärliches Haar war zerzaust. Die Brusttasche seines Jacketts und ein Hosenbein waren halb abgerissen, und er hatte eine Sandale verloren. Seine ramponierte Erscheinung und die theatralischen Gesten, mit denen er sein unablässiges Gezeter untermalte, schien die Schaulustigen viel mehr zu fesseln als die demolierten Autos. Auf der einen Handfläche hatte er eine Schnittwunde, die bis zum Handgelenk reichte. Als die aufgeregte Menge sich etwas zu beruhigen schien, begann er schreiend und wild lamentierend das Blut aus der Wunde in seinem Gesicht und auf seinem grauen Anzug zu verschmieren.
    Dann traten einige Männer in Erscheinung, die eine Frau trugen und sie auf der kleinen freien Fläche vor seinen Füßen auf ein Tuch legten. Sie riefen Anweisungen in die Menge, und kurz darauf tauchte ein Holzkarren auf, der von Männern geschoben wurde, die nur mit Unterhemden und kurzen Lungis bekleidet waren. Die Frau wurde auf den Karren gehoben, ihr roter Sari zusammengerafft und um ihre Beine gewickelt. Vielleicht war sie die Ehefrau des tobenden Mannes – es war schwer zu sagen –, jedenfalls bekam seine Wut plötzlich etwas Hysterisches. Er packte sie grob an den Schultern und schüttelte sie. Er zog sie an den Haaren. Und dann wandte er sich mit ausladenden, dramatischen Bewegungen an die Zuschauer, riss die Arme weit auseinander und schlug sich dann in sein blutverschmiertes Gesicht. Was er da aufführte, war die kunstvolle Gestik des Pantomimen, die übertriebene Darbietung eines Stummfilmdarstellers, und ich konnte nicht umhin, diesen Auftritt absurd und amüsant zu finden. Doch die Verletzungen der Leute waren ebenso echt wie das drohende Grollen der stetig anwachsenden Menschenmenge.
    Als die halb bewusstlose Frau auf dem Karren weggerollt wurde, warf sich der Mann gegen die Tür des Taxis und riss sie auf. Die Menge reagierte vollkommen synchron: Im Handumdrehen hatten die Zuschauer den benommenen und verletzten Taxifahrer aus dem Auto gezerrt und auf die Motorhaube geworfen. Er hob zaghaft flehend die Arme, doch ein Dutzend, zwanzig, fünfzig Hände rissen an ihm und hieben auf ihn ein. Ein Hagel von Schlägen ging auf ihn nieder – auf sein Gesicht, seine Brust, seinen Magen, seine

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