Shantaram
Lenden. Fingernägel kratzten und schürften, rissen ihm eine Wange vom Mund bis zum Ohr auf und zerfetzten sein Hemd.
Es war eine Sache von Sekunden. Ich sah, was sich vor meinen Augen abspielte, und konnte doch nicht reagieren. Das geht alles viel zu schnell, sagte ich mir, ich bin noch benommen, ich kann nicht schnell genug handeln. Was wir Feigheit nennen, ist oft nur Überraschtheit, und Mut ist selten etwas anderes als gute Vorbereitung. Und vielleicht hätte ich eingegriffen, wenn das Ganze in Australien passiert wäre. Das ist nicht dein Land, sagte ich mir, während ich tatenlos zusah, wie der Mann verprügelt wurde. Es ist nicht deine Kultur …
Doch da war noch ein anderer Gedanke, tief in mir, im Dunkeln und Verborgenen, ein Gedanke, der heute glasklar vor mir steht: Dieser Mann war ein Idiot, ein unverschämter, aggressiver Idiot, dessen rücksichtslose Dummheit Prabaker und mich in Lebensgefahr gebracht hatte. Ein Splitter von Gehässigkeit hatte sich auch in mein Herz gebohrt, als die Menge sich auf ihn stürzte, und ich spürte, dass dieselbe Lust der Leute an tätlich ausgeübter Rache – ein Hieb, ein Schrei, ein Stoß – auch in mir angelegt war. Hilflos, hasenherzig, beschämt, unternahm ich nichts.
»Wir müssen irgendwas tun …«, sagte ich lahm.
»Tun schon genug die Leute, Baba«, antwortete Prabaker.
»Nein, ich meine, wir müssen … können wir ihm denn nicht irgendwie helfen?«
»Könntest du nicht helfen dieser Bursche«, seufzte er. »Siehst du es jetzt, Lin. Ist er ganz schlechtes Geschäft in Bombay ein Unfall. Besser steigst du aus das Auto oder das Taxi oder was du fahrst, immer sehr, sehr schnell aus. Haben sie kein Geduld mit solche Sache, die Leute. Schaust du, ist es zu spät für diese Bursche.«
Der Mann war schnell, aber brutal zusammengeschlagen worden. Aus zahlreichen Wunden im Gesicht und an seinem halb nackten Oberkörper strömte Blut. Auf ein Signal hin, das wundersamerweise durch das Geheul und Gekreische der Menge drang, wurde der Mann über die Köpfe der Menschen hinweg hochgehoben und weggetragen. Ein Dutzend Hände presste seine Beine zusammen und spreizte seine Arme rechtwinklig vom Torso ab. Sein Kopf wackelte unsicher und fiel dann nach hinten. Der blutnasse Hautlappen an der aufgerissenen Wange hing schlaff herunter. Er war bei Bewusstsein, und seine Augen standen offen – schwarze Augen, aus denen Furcht und wirre Hoffnung sprachen. Er starrte hinter sich und sah alles verkehrt herum. Die Fahrzeuge ließen die Menge passieren, und der Mann verschwand langsam aus unserem Blickfeld, gekreuzigt an Hände und Schultern seiner Peiniger.
»Kommst du, Lin, gehen wir. Alles gut bei dir?«
»Ja, alles okay«, murmelte ich und zwang mich, mit ihm Schritt zu halten. Meine Selbstsicherheit war wie zerschmolzen, und meine Beine fühlten sich bleiern an. Jeder Schritt war eine Tortur und ein Willensakt. Es war nicht die Gewalttätigkeit, die mich so sehr erschüttert hatte. Im Gefängnis hatte ich schlimmere Gewaltausbrüche bei nichtigeren Anlässen erlebt. Was mich an diesem Zwischenfall so schockierte, war die Tatsache, dass meine anmaßende Selbstgefälligkeit auf einen Schlag vollkommen zunichtegemacht worden war. Alles, was ich nach diesen ersten Wochen über Bombay zu wissen geglaubt hatte, jenes Bombay der Tempel und Basare, der Restaurants und der neuen Freunde, war in den Flammen dieses kollektiven Wutausbruchs zu Asche verglüht.
»Was … was werden sie mit ihm machen?«
»Bringen sie ihn zu Polizei, ich glaube. Ist sie die Polizeiwache für dieser Stadtteil hinter Crawford Market. Vielleicht wird er haben das Glück – vielleicht kommt er an und lebt er noch. Vielleicht nicht. Hat er schnelle Karma, diese Bursche.«
»Hast du so was schon mal erlebt?«
»Oh, viele Mal, Linbaba. Manchmal fahr ich Taxi von die meine Cousin Shantu. Hab ich schon gesehen viel böse Menschen. Darum hab ich so Angst bekommen für dich und auch für mein gute Selbst.«
»Warum passiert so etwas? Warum haben die sich so furchtbar aufgeregt?«
»Weiß das niemand, Lin.« Prabaker zuckte die Achseln und ging ein wenig schneller.
»Moment mal.« Ich fasste ihn an der Schulter, um ihn aufzuhalten, und blieb selbst stehen. »Wo gehen wir hin?«
»Machen wir prima Führung weiter.«
»Ich dachte, du … du wolltest das vielleicht ausfallen lassen nach dem …«
»Ausfallen? Aber warum? Sehen wir viel Leben. Viel von allem. Also gehen wir, na ?«
»Und was ist mit
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