Shantaram
Menschen hindurch, sondern durch die Gebäude und durch ihre Wohnungen.
Wir kamen zu einem Stand, an dem ein Mann mit schweißfleckiger Baumwollweste in einem Topf voll blubberndem Öl rührte, in dem Teigtaschen schwammen. Die blauen Flammen seines Petroleumkochers spendeten hier das einzige Licht, das unheimlich und beklemmend wirkte. Das Gesicht des Mannes war vom Leben gezeichnet; ich las die Strapazen des täglichen Überlebenskampfes darin und jene dumpfe Wut, die aus den Augen der schlecht bezahlten Lohnarbeiter blitzt. Prabaker schob sich an ihm vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Als ich mich dem Mann näherte, wandte er sich mir zu, und unsere Blicke begegneten sich. Und einen Moment lang traf mich die ganze Kraft seiner blau flackernden Wut.
Viele Jahre später unterhielten sich die afghanischen Guerillakämpfer, die meine Freunde werden sollten, auf einem Berg in der Nähe des belagerten Kandahar oft stundenlang über indische Filme und ihre Bollywood-Lieblingsstars. Die indischen Schauspieler sind die Besten der Welt, sagte einer von ihnen einmal, denn die Inder können mit den Augen schreien. Jener Koch in der dunklen Gasse sah mich mit schreienden Augen an und brachte mich damit so zuverlässig zum Stehen, als hätte er mir die Faust in die Brust gedroschen. Ich konnte mich nicht rühren. In meinen Augen standen Worte – es tut mir leid – es tut mir leid, dass du so dein Geld verdienen musst, es tut mir leid, dass deine Welt, dein Leben, so heiß und dunkel und unbeachtet ist, es tut mir leid, dass ich hier einfach eindringe …
Ohne den Blick von mir abzuwenden, packte er die Griffe seines Topfes. Ein, zwei hämmernde Herzschläge lang konnte ich den lächerlichen, schrecklichen Gedanken nicht abschütteln, dass er mir das kochende Öl ins Gesicht kippen würde. Furcht zuckte in meinen Füßen, und ich setzte mich in Bewegung. Ich drängte mich an ihm vorbei, die Hände an die feuchte Steinwand gepresst. Zwei Schritte hinter ihm blieb ich in einem Spalt im Boden hängen, stolperte, fiel und riss dabei einen Mann mit zu Boden. Einen alten, dünnen und gebrechlichen Mann. Ich spürte seinen reisigdünnen Brustkorb unter seinem groben Kittel. Wir stürzten schwer, landeten neben einem offenen Hauseingang, und der alte Mann stieß sich den Kopf an. Ich rappelte mich hoch, rutschte jedoch auf einem Haufen loser Steine aus. Als ich dem Mann aufhelfen wollte, schlug mir eine alte Frau, die in dem offenen Hauseingang hockte, warnend auf die Hände. Ich entschuldigte mich auf Englisch, versuchte krampfhaft, mich daran zu erinnern, was Entschuldigung auf Hindi heißt – wie hieß das gleich? Prabaker hatte es mir doch gesagt … Mujhako afsos hain … genau – ich sagte es drei, vier Mal. In dem dunklen, stillen Korridor zwischen den Häusern hallten meine Worte nach wie die eines Betrunkenen in einer leeren Kirche.
Der alte Mann, der jetzt zusammengesunken im Hauseingang saß, stöhnte leise. Die Frau wischte ihm mit einem Zipfel ihres Kopftuchs übers Gesicht und hielt mir diesen dann hin, damit ich den hellen Blutfleck darauf sah. Sie sagte kein Wort, doch ihr runzliges Gesicht war verächtlich verzogen. Mit dieser einfachen Geste, als sie mir das blutige Kopftuch vorhielt, schien sie mir zu sagen: Schau, du dummer Esel, du ungelenker Barbar, schau nur, was du angerichtet hast …
Plötzlich schien die Hitze mich zu ersticken und die fremdartige Dunkelheit mich niederzudrücken. Die Wände schienen sich gegen den Widerstand meiner ausgestreckten Hände zu pressen, weil sie endlich ganz zusammenrücken wollten. Ich entfernte mich von den beiden Alten, erst stolpernd, dann blindlings vorwärtsstürmend, mitten hinein ins tiefe Dunkel des Gassentunnels. Plötzlich berührte mich eine Hand an der Schulter. Es war eine sanfte Berührung, doch ich hätte fast laut aufgeschrien.
»Hier lang, Baba«, sagte Prabaker mit leisem Lachen. »Wo gehst du nur hin? Gehst du nur hier lang. Diese Gang durch jetzt, und musst du deine beide Füße nach außen halten, weil ist es zu viel Schmutz in die Mitte von Gang, okay?«
Er stand vor einer schmalen Lücke zwischen zwei kahlen Hauswänden. Das Weiß seiner Augen und der Zähne in seinem lächelnden Mund leuchtete schwach, doch hinter ihm war nichts als Schwärze. Er drehte sich um, kehrte mir den Rücken zu und setzte seine Füße direkt neben den Wänden auf. Dann stützte er sich mit den Armen ab und watschelte los. Die Füße zog Prabaker in kleinen
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