Shantaram
sie zu beruhigen. Meine Hand berührte eine heiße blutende Wunde. Ich hob den Kopf und sah, dass die Stute zweimal getroffen worden war, am Hals und am Bauch. Bei jedem mühsamen Atemzug quoll Blut aus den Wunden, und das Pferd weinte. Die Laute, die sie von sich gab, kann ich nicht anders beschreiben – ein qualvolles stockendes wimmerndes Schluchzen. Ich schlang ihr die Arme um den Hals und legte meinen Kopf an den ihren.
Unsere Männer konzentrierten ihr Feuer auf einen Bergkamm in etwa hundertfünfzig Meter Entfernung. Ich spähte vorsichtig über die Mähne meines Pferdes und sah, wie Staubwolken aufstiegen, wenn die Geschosse in die Erde einschlugen.
Und dann war es vorbei. Ich hörte, wie Khader in drei Sprachen schrie, dass man das Feuer einstellen solle. Wir warteten ein paar Minuten ab, in einer Stille, die wimmerte, stöhnte und schluchzte. Dann näherten sich Schritte, und ich sah, wie Khaled Ansari geduckt auf mich zurannte.
»Bist du in Ordnung, Lin?«
»Ja«, sagte ich automatisch, fragte mich aber dann, ob ich nicht auch getroffen worden war. Ich tastete meine Arme und Beine ab. »Ja, alles dran. Ich bin wohl heil davongekommen. Aber sie haben mein Pferd getroffen. Es ist –«
»Ich bin am Durchzählen!«, unterbrach er mich und hielt beide Hände hoch, um mich zu beruhigen und am Weiterreden zu hindern. »Khader hat mich losgeschickt, um nach dir zu sehen und durchzuzählen. Ich komme gleich wieder. Rühr dich nicht von der Stelle.«
»Aber das Pferd –«
»Ist erledigt!«, zischte er und sagte dann in milderem Ton: »Das Pferd ist verloren, Lin. Da ist nichts zu machen. Es hat auch noch andere erwischt. Habib wird ihm den Gnadenstoß geben. Bleib hier und halt den Kopf unten. Ich komme gleich zurück.«
Er rannte geduckt weiter nach hinten und machte hie und da Halt. Das Pferd atmete ächzend und wimmerte bei jedem dritten oder vierten mühsamen Atemzug. Das Blut floss langsam, aber unaufhörlich. Aus der Bauchwunde quoll eine Flüssigkeit, die dunkler war als Blut. Ich versuchte die Stute zu trösten, streichelte ihren Hals, und dabei fiel mir auf, dass ich ihr keinen Namen gegeben hatte. Es kam mir grausam vor, sie ohne Namen sterben zu lassen. Ich überlegte fieberhaft, und als ich das Gedankennetz aus der blauschwarzen Tiefe emporzog, fand ich einen Namen darin, schillernd und wahrhaftig.
»Ich werde dich Claire nennen«, raunte ich der Stute ins Ohr. »Claire war ein bezauberndes Mädchen. Neben ihr sah ich immer gut aus, wo wir auch hingingen. In ihrer Nähe machte ich immer den Eindruck, als wisse ich, was ich tue. Und ich fing erst an, sie wirklich zu lieben, als sie sich zum letzten Mal von mir verabschiedete. Sie sagte, dass ich mich für alles interessieren würde, mich aber auf nichts wirklich einließe. Das hat sie mal zu mir gesagt. Und sie hatte recht. Sie hatte recht.«
Ich redete sinnlos drauflos, unter Schock. Ich kenne die Anzeichen jetzt. Ich habe andere Männer erlebt, die zum ersten Mal unter Feuer gerieten. Einige wenige wissen, was sie zu tun haben: Sie erwidern das Feuer, noch bevor ihre Körper sich instinktiv zu Boden werfen. Andere lachen und können nicht mehr aufhören. Einige brechen in Tränen aus, rufen nach ihrer Mutter, ihrer Frau, ihrem Gott. Wieder andere verkriechen sich in sich selbst und werden so still, dass sogar ihre Freunde sich vor ihnen fürchten. Und einige sprechen ohne Ende, so wie ich, der ich auf mein sterbendes Pferd einredete.
Habib kam im Zickzackkurs, halb geduckt, auf mich zugelaufen und sah, dass ich der Stute ins Ohr raunte. Er untersuchte sie gründlich, strich über die Wunden und tastete unter dem Fell nach den Kugeln. Dann zog er sein Messer aus der Scheide. Es war ein langes Messer mit gebogener Spitze. Er senkte es auf den Hals der Stute, hielt inne und sah mich an. Um die Pupillen seiner irren Augen schienen goldene Wirbel zu kreisen. Der Irrsinn in diesen Augen machte sie noch größer, als wolle er sich mit aller Kraft aus seinem Gehirn nach draußen drängen. Dennoch war Habib noch so weit bei Sinnen, dass er meine hilflose Trauer spürte, und er hielt mir das Messer hin.
Vielleicht hätte ich es nehmen und das Pferd, mein Pferd, selbst töten sollen. Vielleicht tut das ein guter Mann, ein Mann von der Sorte, der sich auf etwas einlässt. Ich war außerstande dazu. Ich schaute auf das Messer und den zuckenden Hals des Pferdes, und ich wusste, dass ich es nicht tun konnte. Ich schüttelte den Kopf. Habib rammte das
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