Shantaram

folgendermaßen: Leben ist eine Grundeigenschaft von allem im Universum. Man könnte es auch ein ›Charakteristikum‹ nennen. Das Wort gefällt mir besonders gut, es hat so einen eigenartigen Klang: als schlage man eine Trommel oder breche trockene Zweige entzwei für ein Feuer. Doch um fortzufahren: Jedes Atom im Universum trägt das Charakteristikum des Lebens in sich. Je komplexer die Art, wie die Atome zusammengesetzt sind, desto komplexer ist der Ausdruck des Lebenscharakteristikums. Ein Felsen ist eine sehr simple Zusammensetzung von Atomen, deshalb können wir das Leben in einem Felsen nicht erkennen. Eine Katze ist eine sehr komplexe Zusammensetzung von Atomen, deshalb ist das Leben in einer Katze offensichtlich. Aber das Leben ist überall vorhanden, sogar in einem Felsen, auch wenn wir es nicht wahrnehmen können.«
    »Woher stammt dieses Konzept? Aus dem Koran?«
    »Man findet es eigentlich in Variationen in den meisten Weltreligionen. Ich habe es leicht abgewandelt, um die Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte einzubeziehen. Aber der Heilige Koran regt mich zu dieser Art von Studien an, denn er fordert mich auf, alles zu studieren und alles zu lernen, um Allah zu dienen.«
    »Aber woher kommt dieser Ansatz mit dem Lebenscharakteristikum ?«, fragte ich hartnäckig nach, weil ich mir sicher war, ihn endgültig in einer reduktionistischen Sackgasse ertappt zu haben.
    »Leben und alle anderen Charakteristika der Dinge im Universum, wie Bewusstsein, freier Wille und die Tendenz zur Komplexität, sogar die Liebe, wurde dem Universum durch das Licht beschert, am Beginn der Zeit, wie wir sie begreifen.«
    »Du meinst den Urknall?«
    »Ja. Die Urknall-Expansion ging von einem Punkt aus, den man Singularität nennt – auch eines meiner mehrsilbigen Lieblingswörter –, in dem eine unendliche Dichte und Hitze herrscht und der dennoch weder Zeit noch Raum in unserem Verständnis davon beansprucht. Dieser Punkt ist eine Art brodelnder Kessel voller Lichtenergie. Etwas führte dazu, dass er sich ausdehnte – wir wissen noch immer nicht, was –, und durch Licht entstanden die Teilchen und Atome sowie Zeit und Raum und alle Kräfte, die wir kennen. Das Licht also versah am Anbeginn des Universums jedes Teilchen mit einer Reihe von Charakteristika, und wenn die Teilchen sich nun auf komplexere Art zusammenfügen, treten die Charakteristika auf komplexere Weise zutage.«
    Khader hielt inne und studierte meine Miene, während ich damit befasst war, die Gedankenkonzepte, Fragen und Gefühle zu verarbeiten, von denen mir der Kopf schwirrte. Er hat sich wieder von mir entfernt, dachte ich und wurde unvermittelt wütend auf Khader, weil er tatsächlich eine Antwort gewusst hatte auf meine Frage. Aus demselben Grund empfand ich jedoch auch Hochachtung und Bewunderung für ihn. Ich spürte immer eine beunruhigende, nahezu unheimliche Widersprüchlichkeit in den weisen Reden des Mafia-Don Abdel Khader Khan. Auch jetzt, an einer Steinmauer in einem nahezu steinzeitlichen Dorf in Afghanistan, nicht weit entfernt von unserer Schmuggelware, den Waffen und Medikamenten, empfand ich die Widersprüchlichkeit der Situation, die durch seinen ruhigen, klugen Diskurs über Gut und Böse, über Licht, Leben und Bewusstsein entstand, als irritierend.
    »Was ich dir gerade erläutert habe, ist das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Materie«, erklärte Khader und hielt wieder inne, bis ich ihn ansah. »Das ist eine Art Test, den du nun kennst. Du solltest diesen Test auf jeden Mann anwenden, der behauptet, den Sinn des Lebens zu kennen. Jeder Guru und jeder Lehrer, jeder Prophet und jeder Philosoph sollten dir diese beiden Fragen beantworten: Was ist eine objektive universell akzeptable Definition von Gut und Böse? Und: Was ist das Verhältnis von Geist und Materie? Wenn er diese Fragen nicht beantworten kann, so wie ich es getan habe, dann hat er den Test nicht bestanden.«
    »Woher weißt du so viel über Physik?«, fragte ich. »All das über Teilchen und Singularitäten und den Urknall und so?«
    Khader starrte mich an, und ich merkte, dass er die unterschwellige Bedeutung dieser Frage erfasst hatte: Wieso kennt ein afghanischer Gangster wie du sich so gut mit Naturwissenschaften aus? Ich hielt seinem Blick stand und erinnerte mich daran, wie ich damals im Slum den üblen Fehler begangen hatte, Johnny Cigar für unwissend zu halten, nur weil er arm war.
    »Es gibt ein Sprichwort – Wenn der Schüler bereit ist, zeigt sich der