Shantaram
umgedreht, als ich Khader kommen hörte, und als ich wieder hingeschaut habe, war er … weg. Er muss in die Schlucht gesprungen sein.«
»Unmöglich«, widersprach Khaled und runzelte die Stirn. »Die ist fünfzig Meter tief. Das kann nicht sein.«
Abdel Khader ging neben dem Toten auf die Knie und raunte Gebete, die Handflächen gen Himmel gerichtet.
»Wir können morgen nach ihm suchen«, sagte Ahmed und legte Khaled beruhigend die Hand auf die Schulter. Er blickte zum Himmel auf. »Das Mondlicht bleibt uns nicht mehr lange erhalten, und wir haben noch viel Arbeit. Mach dir keine Sorgen. Wenn er noch in der Nähe ist, werden wir ihn morgen finden. Und wenn nicht – falls er verschwunden ist – ist das vielleicht auch nicht so schlecht für uns, non ?«
»Ich möchte, dass die Wache heute Nacht nach ihm Ausschau hält«, befahl Khaled. »Unsere eigenen Leute, die Habib gut kennen, nicht die Leute aus dem Lager.«
»Oui«, pflichtete Zadeh ihm bei.
»Wenn möglich, sollen sie nicht auf ihn schießen«, fuhr Khaled fort, »aber sie sollen auch kein Risiko eingehen. Untersucht seine Sachen, sein Pferd und sein Gepäck. Überprüft, welche Waffen und wie viel Sprengstoff er bei sich haben kann. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber ich glaube, er hatte irgendwas unter seiner Jacke. Scheiße, so ein verdammtes Chaos!«
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Zadeh wieder beruhigend.
»Ich kann nicht anders«, erwiderte der Palästinenser und blickte nervös in die Dunkelheit. »Das ist ein verflucht schlechter Anfang. Ich habe das Gefühl, er ist jetzt irgendwo da draußen und lässt uns nicht aus den Augen.«
Als Khader seine Gebete beendet hatte, trugen wir Siddiqis Leiche unter die Zeltplane zurück und schlugen sie in Tücher ein, bis wir am nächsten Tag das Begräbnis abhalten konnten. Wir arbeiteten noch einige Stunden weiter, dann legten wir uns Seite an Seite am Eingang der Höhle zum Schlafen nieder. Die erschöpften Männer schliefen unruhig und schnarchten laut, doch ich fand aus anderen Gründen keine Ruhe. Immer wieder sah ich die Stelle in der Finsternis vor mir, an der Habib verschwunden war. Khaled hatte recht. Er hatte schlecht begonnen, Khaders Krieg, und wieder und wieder hörte ich seine Worte. Ein schlechter Anfang …
Um mich zu beruhigen, richtete ich den Blick auf die hellen funkelnden Sterne am schwarzen Himmel dieser schicksalhaften Nacht, doch er wanderte unwillkürlich immer wieder zum dunklen Rand des Plateaus. Und ich wusste, so wie man ohne ein Wort spürt, wann man eine Liebe verloren hat, oder wie man ganz plötzlich begreift, dass man von einem vermeintlichen Freund getrogen wurde, dass Khaders Krieg für uns alle noch viel schlimmer enden würde, als er begonnen hatte.
V IERUNDDREISSIGSTES K APITEL
Z wei Monate lang, in denen die Tage immer kälter wurden, lebten wir mit den Untergrundkämpfern in ihren Höhlen im Shar-e Safa-Gebirge. Diese Zeit war in mancherlei Hinsicht hart, doch unser Lager geriet nie unter direktes Feuer, und wir konnten uns relativ sicher fühlen. Unser Stützpunkt, nur fünfzig Kilometer Luftweg entfernt von Kandahar, befand sich in zwanzig Kilometern Entfernung von der Hauptstraße nach Kabul und etwa fünfzig Kilometer südöstlich des Arghandab-Staudamms. Die Russen hatten Kandahar besetzt, aber ihre Stellung geriet ins Wanken, und die Stadt im Süden des Landes wurde immer wieder belagert. Das Zentrum war unter Raketenbeschuss geraten, und auch die Kämpfe am Rande der Stadt kosteten viele Menschenleben. Die Hauptachse, die russische Panzer und Nachschubkonvois benutzen mussten, um nach Kandahar vorzustoßen, war unter Kontrolle mehrerer gut bewaffneter Mudjahedin-Einheiten, von denen die Fahrzeuge regelmäßig beschossen wurden. Afghanische Truppen, die der Marionettenregierung in Kabul unterstanden, verteidigten den strategisch wichtigen Arghandab-Damm, wurden aber auch häufig angegriffen und taten sich schwer, die Stellung zu halten. Wir befanden uns also inmitten eines Dreiecks aus Kampfzonen, die permanent neue Menschenleben und Waffen verbrauchten. Das Shar-e Safa-Gebirge bot unseren Feinden jedoch keinerlei strategische Vorteile, weshalb wir in unserer gut getarnten Höhlenfestung von Kämpfen verschont blieben.
In jenen Wochen veränderte sich das Wetter, und ein Winter, der lang und hart werden sollte, begann. Es gab nicht selten heftige Schneefälle, und unsere Kleidung wurde nie mehr richtig trocken. An manchen Tagen hing
Weitere Kostenlose Bücher