Shantaram
möglich war.
Wir machten Bestandsaufnahme unserer Vorräte und Ausrüstung. Vor dem letzten Angriff hatten wir noch zwei Ziegen besessen, doch eine war davongelaufen, und wir bekamen sie nie wieder zu Gesicht. Die andere fanden wir in einer Nische zwischen zwei steilen steinigen Abhängen, in die sie sich geflüchtet hatte. Die Ziege war das einzige uns verbliebene Nahrungsmittel. Mehl, Reis, Ghee und Zucker waren zu Asche verbrannt. Von den chirurgischen Instrumenten waren die Meisten zu nutzlosen Metallklumpen geschmolzen. Ich wühlte mich durch den Schutt und konnte wenigstens einige Antibiotika, Desinfektionsmittel, Salben, Mullbinden, Operationsnadeln, Faden, Spritzen und Morphiumampullen retten. Wir hatten Munition und einige Medikamente, und wir konnten den Schnee zu Wasser schmelzen, aber der Mangel an Nahrungsmitteln war besorgniserregend. Wir waren neun Mann. Suleiman und Khaled beschlossen, dass wir dieses Lager aufgeben mussten. In einem anderen Gebirge etwa zwölf Stunden Fußmarsch von hier entfernt gab es eine Höhle, von der sie hofften, dass sie uns ausreichend Schutz bieten konnte. Die Russen würden aller Voraussicht nach im Laufe der nächsten Stunden einen weiteren Hubschrauberangriff starten, und die Bodentruppen würden dann nicht lange auf sich warten lassen.
»Jeder Mann füllt zwei Kanister mit Schnee und trägt sie während dem Marsch nahe am Körper«, übersetzte Khaled mir Suleimans Anweisungen. »Wir nehmen Waffen, Munition, Medikamente, Decken, Holz und die Ziege mit, weiter nichts. Abmarsch!«
Mit leerem Magen machten wir uns auf den Weg, und in diesem Zustand verblieben wir auch den größten Teil der folgenden vier Wochen, in denen wir uns in der neuen Höhle verbargen. Hanif, einer von Jalalaads jungen Freunden, war in seinem Dorf ein Halal-Schlachter gewesen. Bei unserer Ankunft schlachtete und häutete er die Ziege, nahm sie aus und teilte sie in vier Teile. Aus dem Holz, das wir aus unserem verwüsteten Lager mitgenommen hatten, und einem Tropfen Spiritus aus einer unserer Lampen machten wir ein Feuer, auf dem wir jedes Stückchen Fleisch zubereiteten, bis auf Teile wie die Beine des Tiers unterhalb des Knies, die als haram galten und Muslimen zum Verzehr untersagt waren. Das sorgfältig gekochte Fleisch wurde in kleine Tagesrationen aufgeteilt und in einer Art behelfsmäßigem Kühlschrank aufbewahrt, den wir im Schnee gegraben hatten. Vier Wochen lang kauten wir dann unsere winzigen trockenen Fleischrationen, während unser Magen schmerzlich knurrend nach mehr verlangte.
Es war Ausdruck unserer Disziplin und unseres guten Zusammenhalts, dass das Fleisch einer einzigen Ziege neun Männer vier Wochen lang am Leben erhalten konnte. Immer wieder versuchten wir eines der benachbarten Khels zu erreichen, um an zusätzliche Nahrungsmittel zu kommen. Doch die Dörfer waren allesamt unter feindlicher Besatzung, und das gesamte Gebirge wurde von Einheiten der afghanischen Armee unter russischer Führung überwacht. Habibs Folterakte in Kombination mit unserer Aktion gegen den Hubschrauber hatte russische wie afghanische Soldaten in Rage versetzt. Bei einer Spähmission hörten unsere Männer eine Ankündigung von den Wänden eines Tals widerhallen. Ein Afghane in einem russischen Jeep mit Lautsprecher beschrieb uns auf Paschto als Banditen und Kriminelle und verkündete, dass man eine Sondereinheit auf die Suche nach uns ausgeschickt habe. Auf unsere Köpfe waren Belohnungen ausgesetzt worden. Unsere Späher hätten den Jeep gerne beschossen, sagten sich aber dann, dass es sich womöglich um eine Falle handelte, mit der man uns aus dem Versteck locken wollte. Sie blieben im Verborgenen, während die Worte zwischen den kahlen Steinwänden widerhallten wie das Heulen umherstreifender Wölfe.
Offenbar aufgrund falscher Informationen – oder vielleicht auch, weil sie der Spur Habibs blutiger Hinrichtungen folgten – konzentrierten die Russen, ausgehend von den umliegenden Dörfern, ihre Suche nach uns auf einen anderen Gebirgszug weiter nördlich. Solange wir uns in der entlegenen Höhle aufhielten, schienen wir sicher zu sein. Und so harrten wir aus, eingesperrt, von Hunger und Angst gepeinigt, während der vier kältesten Wochen des Jahres. Wir blieben im Verborgenen, schlichen bei Tage durch Schatten und lagen des Nachts ohne Licht und Wärme im Dunkeln. Und langsam, Stunde um eisige Stunde, schnitzte das Messer des Krieges an uns und entfernte alle Wünsche und alle Hoffnungen,
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