Shantaram
Abhang hinunter.
Wir suchten das Lager nach Überlebenden ab. Zu Beginn des Angriffs waren wir mit unseren beiden Verwundeten zwanzig Mann gewesen. Danach waren noch elf übrig: Jalalaad und Juma und Hanif, die beiden jungen Männer, die sich ihm auf der Suche nach Russen oder afghanischen Soldaten angeschlossen hatten; Khaled; Nasir; ein sehr junger Kämpfer namens Ala-ud-Din; drei Verwundete; Suleiman und ich. Wir hatten neun Mann verloren; einen mehr als die afghanische Einheit, die wir angegriffen hatten.
Unsere Verwundeten waren in schlimmem Zustand. Einer hatte so verheerende Verbrennungen erlitten, dass seine Finger verschmolzen waren wie Krabbenscheren und sein Gesicht nicht mehr als menschlich erkennbar war. Er atmete nur noch durch ein Loch in der roten Hautfläche, die vormals sein Gesicht gewesen war. Man konnte nicht einmal sicher sein, ob dieses zitternde Loch in der Tat sein Mund war. Die Atemzüge waren scharrende langsame Laute, die leiser und schwächer wurden, als ich neben ihm kniete. Ich gab ihm eine Morphiumspritze und ging zum nächsten Verletzten, einem Bauern aus Ghazni namens Zaher Rasul, der es sich angewöhnt hatte, mir immer grünen Tee zu bringen, wenn ich ein Buch las oder in mein Tagebuch schrieb. Er war ein liebenswürdiger, bescheidener Mann von zweiundvierzig Jahren; ein Senior in einem Land, in dem die durchschnittliche Lebensdauer eines Mannes bei fünfundvierzig lag. Sein rechter Arm war unterhalb der rechten Schulter abgerissen, und seine Seite war vom selben Projektil bis zur Hüfte aufgerissen worden. Es gab keine Möglichkeit festzustellen, ob und wo in der Wunde Metall- oder Steinsplitter festsitzen mochten. Er betete immer wieder ein zikkir:
Gott ist groß
Gott verzeihe mir
Gott ist barmherzig
Gott verzeihe mir
Mahmud Melbaaf hielt ein Tourniquet am Schulterstumpf des Mannes fest. Als er es abnahm, sprudelte uns Blut entgegen. Mahmud zog das Tourniquet wieder fest. Ich schaute Mahmud an.
»Arterie«, sagte ich, entmutigt ob der Aufgabe, die mir bevorstand.
»Ja. Unter dem Arm. Hast du sie gesehen?«
»Ja. Muss zugenäht oder geklammert werden oder irgendwas. Er hat schon zu viel Blut verloren.«
Die mit Ruß und Asche bedeckten Überreste des Verbandskoffers lagen auf einem Stück Zeltplane vor mir. Ich fand noch eine Operationsnadel, eine rostige Zange aus dem Werkzeugkasten und ein Stück Seidenfaden. Mit starr gefrorenen Fingern vernähte ich die Arterie und das Fleisch, um den Blutfluss zu stoppen. Der Faden verhedderte sich dreimal. Meine Hände zitterten. Der Mann war bei Bewusstsein und litt entsetzliche Schmerzen. Immer wieder schrie und heulte er auf, murmelte jedoch dann aufs Neue sein Gebet.
Trotz der gnadenlosen Kälte lief mir Schweiß in die Augen, als ich Mahmud zunickte, damit er das Tourniquet abnahm. Durch die Stiche sickerte immer noch Blut, langsamer zwar, aber ich wusste, dass er langfristig dennoch verbluten würde. Ich begann Mull auf die Wunde zu drücken und einen Druckverband anzulegen, aber Mahmud packte mit blutigen Händen meine Handgelenke. Als ich aufblickte, sah ich, dass Zaher Rasul nicht mehr betete und auch nicht mehr blutete. Er war tot.
Ich atmete schwer; jene Art von Atemzügen, die mehr schaden als nützen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich seit vielen Stunden nicht mehr gegessen hatte und furchtbar hungrig war. Mit diesem Gedanken – Hunger, Essen – wurde mir zum ersten Mal schlecht. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach und die Übelkeit mich packte, doch ich schüttelte heftig den Kopf, um mich gegen sie zu wehren.
Als wir wieder nach dem Mann mit den Verbrennungen sahen, stellten wir fest, dass auch er seinen Verletzungen erlegen war. Ich bedeckte seinen reglosen Körper mit einem Stück Tarnplane. Mein letzter Blick auf das verbrannte, bis zur Unkenntlichkeit entstellte Gesicht war begleitet von einem Dankgebet. Eine der verstörenden Wahrheiten für einen Kriegsarzt besteht in der Erkenntnis, dass man genauso oft und genauso inbrünstig um den Tod von Männern betet wie für ihr Leben. Der dritte Verwundete war Mahmud Melbaaf selbst. In seinem Rücken, am Hals und am Hinterkopf steckten kleine grauschwarze Metall- und Plastiksplitter fest. Glücklicherweise waren diese Splitter wie Holzspreißel nur in die oberste Hautschicht eingedrungen. Dennoch dauerte es eine Stunde, bis ich sie alle entfernt hatte. Danach wusch ich die Wunden, bedeckte sie mit Penicillinpuder und verband sie an den Stellen, an denen es
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