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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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das Lächeln, das er Jalalaad zuwarf, als er sich noch einmal umdrehte, war mutig und strahlend. Wir sahen zu, wie sein schmaler Schatten die verschneiten Hänge hinunterwanderte.
    Der Hunger machte die Kälte noch unerträglicher. Es war ein langer harter Winter, in dem es etwa alle zwei Tage zu Schneefällen kam. Bei Tage lag die Temperatur nur knapp über dem Gefrierpunkt, von der Dämmerung bis weit nach dem Morgengrauen darunter. Meine Hände und Füße waren unentwegt kalt und schmerzten. Meine Gesichtshaut fühlte sich hölzern an und war so rissig wie die Füße der Bauern in Prabakers Dorf. Wir pissten auf unsere Hände, um die stechenden Schmerzen zu vertreiben, was tatsächlich hilfreich war. Doch wir waren so durchgefroren, dass Pissen als solches ein ernsthaftes Problem darstellte. Als Erstes musste man das Grauen überwinden, überhaupt seine Kleider zu öffnen; dann folgte das Zittern, wenn man die warme Flüssigkeit nicht mehr im Körper hatte. Die Körpertemperatur sank danach rasch, weshalb wir das Pissen immer bis zum letzten Moment aufschoben.
    An diesem Abend kehrte Juma nicht zurück. Hunger und Furcht hielten uns wach, und um Mitternacht fuhren wir alle hoch, als wir im Dunkeln ein fremdes Geräusch vernahmen. Sieben Gewehre waren sofort auf diese Stelle gerichtet, und wir erschraken, als sich in der Dunkelheit ein Gesicht abzeichnete, viel dichter bei uns, als wir erwartet hatten. Es war Habib.
    »Was tust du, mein Bruder?«, fragte Khaled mit sanfter Stimme auf Urdu. »Du hast uns schlimm erschreckt.«
    »Sie sind hier«, antwortete er in einem ruhigen Tonfall, der aus einer anderen Zeit zu stammen schien, einem Medium in Trance gleich. Sein Gesicht war schmutzverkrustet. Wir waren alle ungewaschen und bärtig, aber Habib sah auf eine widerwärtige und abstoßende Art verdreckt aus. Der Schmutz schien wie Eiter aus einer entzündeten Wunde durch die Poren seiner Haut nach außen zu dringen, aus einer Fäulnis in seinem tiefsten Inneren. »Sie sind hier überall. Und sie kommen hier hoch, um euch zu töten, wenn mehr Männer da sind, morgen oder am Tag danach. Bald. Sie wissen, wo ihr seid. Sie werden euch alle töten. Es gibt nur einen Weg nach draußen.«
    »Wie hast du uns hier gefunden, Bruder?«, fragte Khaled. Seine Stimme klang so ruhig und fern wie die von Habib.
    »Ich habe euch begleitet. Ich war immer in eurer Nähe. Habt ihr mich nicht bemerkt?«
    »Meine Freunde«, sagte Jalalaad, »Juma und Hanif – hast du sie irgendwo gesehen?«
    Habib antwortete nicht. Jalalaad wiederholte seine Frage mit größerem Nachdruck.
    »Hast du sie gesehen? Waren sie in dem russischen Lager? Sind sie gefangen genommen worden?«
    Ein Schweigen breitete sich aus, das nach Angst und dem giftigen Gestank von verfaultem Fleisch roch, der Habib umgab. Er schien zu meditieren oder auf etwas zu lauschen, das keiner von uns hören konnte.
    »Sag mir, bach-e-kaka«, fragte Suleiman behutsam – er versuchte Habibs Vertrauen zu gewinnen, indem er das Wort »Neffe« benutzte –, »sag mir, was meinst du damit, dass es nur einen Weg nach draußen gibt?«
    »Sie sind überall«, antwortete Habib. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund starr und unnatürlich breit. Mahmud Melbaaf übersetzte für mich. »Sie haben nicht genug Männer«, raunte er an meinem Ohr. »Sie haben alle einfachen Wege aus den Bergen vermint. Norden, Osten, Westen, alle vermint. Nur der Südosten ist frei, weil sie glauben, dass ihr dort nicht flüchten wollt. Außerdem wollen sie diesen Weg selbst nutzen, um hier heraufzukommen und euch zu holen.«
    Als Habib plötzlich verstummte, flüsterte Mahmud mir zu: »Diese Route können wir auch nicht benutzen. Die Russen haben das Tal südöstlich von hier eingenommen. Es ist ihre Route nach Kandahar. Wenn sie hierherkommen, werden sie genau diesen Weg nehmen. Und wenn wir dort zu flüchten versuchen, werden wir alle sterben.«
    »Jetzt sind sie im Südosten. Aber morgen, den ganzen Tag, sind sie auf der anderen Seite des Berges, im Nordwesten«, äußerte Habib. Seine Stimme klang noch immer ruhig, doch sein Gesicht wirkte wie eine grotesk verzerrte Maske, und dieser Kontrast machte jeden von uns nervös. »Nur ein paar werden morgen hier sein. Die anderen legen die letzten Minen, an den Hängen im Nordwesten, gleich nach dem Morgengrauen. Wenn ihr sie morgen angreift und überrennt, im Südwesten, sind nur ein paar Mann da. Ihr könnt durchbrechen und entkommen. Aber nur

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