Shantaram
schließlich entschuldigte und mir draußen eine geschützte Stelle suchte, wo ich mich hinsetzte und auf den wolkenverhangenen Himmel starrte. Ich versuchte die Angst niederzukämpfen, die in meinem leeren Bauch rumorte und ihre scharfen Klauen nach meinem Herz ausstreckte.
Morgen. Morgen würden wir durch die feindlichen Linien brechen. Keiner der Männer hatte es ausgesprochen, aber ich wusste, dass sie glaubten, wir würden dabei sterben. Sie waren zu heiter, zu entspannt. Die Spannung und die Bedrücktheit der letzten Wochen hatten sich verflüchtigt, seit wir die Entscheidung getroffen hatten. Doch sie strahlten nicht die freudige Erleichterung von Männern aus, die wissen, dass sie gerettet sind. Sondern etwas, das ich am Abend vor meiner Flucht im Spiegel meiner Zelle gesehen hatte und auch in den Augen des Mannes, der mit mir geflüchtet war. Es war die Hochstimmung, in der sich Männer befinden, wenn sie alles auf eine Karte setzen und Kopf und Kragen riskieren. Am nächsten Tag würden wir entweder tot sein oder frei. Dieselbe Entschlossenheit, die mich damals dazu bewogen hatte, über die Gefängnismauer zu klettern, veranlasste uns jetzt dazu, den Gewehren der Feinde entgegenzutreten: besser im Kampf sterben als wie eine Ratte in der Falle. Ich war aus dem Gefängnis entkommen, hatte die Welt und die Jahre durchquert und fand mich nun in Gesellschaft von Männern, die über Freiheit und Tod genauso dachten wie ich.
Dennoch hatte ich Angst: Angst davor, verwundet zu werden, ins Rückenmark getroffen zu werden und verwundet zu sein, in Gefangenschaft zu geraten und wieder in einem Gefängnis von Wärtern gefoltert zu werden. Mir kam der Gedanke, dass Karla und Khaderbhai sicher etwas Kluges zu sagen gewusst hätten über Angst. Und bei diesem Gedanken wurde mir bewusst, wie fern sie diesem Ort waren, diesem Augenblick, wie fern sie mir waren. Ich merkte, dass ich ihre klugen Sätze nicht mehr brauchte; sie nützten mir nichts mehr. Alle Klugheit der Welt konnte nichts ausrichten gegen die rumorende Angst in meinem Bauch. Wenn man weiß, dass man sterben wird, ist Klugheit kein Trost. Intelligenz erscheint nichtig und Klugheit leer. Wenn es Trost gibt, dann besteht er aus dieser sonderbaren Mixtur aus Zeit, Ort und Gefühl, die wir für gewöhnlich Weisheit nennen. In jener Nacht vor dem Kampf fandich sie im Klang der Stimme meiner Mutter und im Leben und Tod meines Freundes Prabaker … Möge Gott dir Frieden schenken, Prabaker. Ich liebe dich noch immer, und wenn ich an dich denke, ist die Trauer in meine Augen und in mein Herz geheftet, mit leuchtenden, flammenden Sternen … Tröstlich war für mich in jener kalten Nacht auf dem Berg die Erinnerung an Prabakers Lächeln und an die Stimme meiner Mutter: Was du im Leben auch tust, tu es mit Mut, dann kann es nie ganz misslingen …
»Hier, für dich«, sagte Khaled, hockte sich neben mir auf die Fersen und reichte mir eine von zwei halben Zigaretten, die er auf der Hand hielt.
»Großer Gott! Wo hast du die denn her?«, fragte ich verblüfft. »Ich dachte, seit letzter Woche hätten wir nichts mehr zu rauchen.«
»Stimmt auch«, erwiderte er und steckte die Zigaretten mit einem kleinen Gasfeuerzeug an. »Bis auf die hier. Die hab ich für einen besonderen Anlass aufbewahrt. Und ich glaube, der ist jetzt gekommen. Ich hab ein schlechtes Gefühl, Lin. Ein ganz schlechtes Gefühl. Es steckt in mir, und ich werd’s nicht los.«
Zum ersten Mal, seit Khader nicht mehr bei uns war, sprachen Khaled und ich mehr als nur die nötigsten Worte miteinander. Wir hatten Seite an Seite gearbeitet und geschlafen, Tag für Tag, aber ich war seinem Blick ausgewichen und hatte jedes Gespräch so verbissen vermieden, dass auch er mir gegenüber begonnen hatte zu schweigen.
»Schau … Khaled … was Khader und Karla angeht … fühl dich nicht … ich meine, ich bin nicht –«
»Nein«, unterbrach er mich. »Du hattest allen Grund, wütend zu sein. Ich sehe es aus deiner Perspektive. Hab ich immer schon getan. Du bist unfair behandelt worden, und das habe ich Khader auch gesagt, an dem Abend, als wir aufgebrochen sind. Er hätte dir vertrauen sollen. Es ist wirklich komisch – der Typ, dem er am meisten vertraut hat, der einzige Mann, dem er jahrelang uneingeschränkt vertraut hat, der hat sich als wahnsinniger Mörder erwiesen und uns alle verraten.«
Der melodische Klang seiner Stimme mit dem arabischen Tonfall und seinem New Yorker Akzent erfasste mich wie eine
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