Shantaram
warme gischtende Welle, und ich hätte Khaled beinahe umarmt. Die beruhigende Wirkung seiner Stimme und das aufrichtige Mitgefühl, das ich immer wieder in seinem vernarbten Gesicht sah, hatten mir gefehlt. Ich war so froh über unsere Aussöhnung, dass ich seine Worte falsch deutete. Ich glaubte, er habe über Abdullah gesprochen. Was nicht der Fall war, und so ging die Chance, die ganze Wahrheit in einem einzigen Gespräch zu erfahren, ein weiteres Mal verloren.
»Wie gut kanntest du Abdullah?«, fragte ich Khaled.
»Ziemlich gut«, antwortete er mit einem Stirnrunzeln, als fragte er sich: Was kommt jetzt?
»Mochtest du ihn?«
»Nicht so recht.«
»Warum nicht?«
»Abdullah hatte nichts, woran er glaubte. Er war ein zielloser Rebell, in einer Welt, in der es viel zu wenig Rebellen gibt, die ihr Ziel klar vor Augen haben. Ich mag Menschen nicht besonders, die an nichts glauben. Und ich habe auch kein wirkliches Vertrauen zu ihnen.«
»Bin ich damit auch gemeint?«
»Nein«, antwortete er lachend. »Du glaubst doch an viele Dinge. Deshalb mag ich dich. Deshalb liebte dich Khader. Er hat dich wirklich geliebt, weißt du. Das hat er mir gesagt, nicht nur einmal.«
»Und woran glaube ich?«, fragte ich mit ironischem Unterton.
»An Menschen«, antwortete er, ohne nachzudenken. »Diese Sache mit der Slumklinik und so. Was du den Männern heute Abend erzählt hast, die Geschichte über das Dorf. Solche Sachen macht man nur, wenn man an Menschen glaubt. Deine Arbeit im Slum, als die Cholera dort gewütet hat – Khader fand das großartig, was du damals geleistet hast, und ich auch. Mann, damals hatte es eine Weile sogar den Anschein, als hätte Karla sich anstecken lassen und würde auch an etwas glauben. Du musst das richtig verstehen, Lin. Wenn Khader eine bessere Möglichkeit gehabt hätte, das zu tun, was er tun musste, dann hätte er sie genutzt. Es ist alles so gekommen, wie es kommen musste. Niemand wollte dich ausnutzen.«
»Nicht mal Karla?«, fragte ich lächelnd, zog ein letztes Mal genießerisch an der Zigarette und drückte den Stummel dann am Boden aus.
»Na ja, Karla vielleicht schon«, räumte er mit seinem kleinen traurigen Lachen ein. »Aber so ist Karla nun mal. Ich glaube, der einzige Typ, den sie niemals ausgenutzt hat, war Abdullah.«
»Waren die beiden zusammen?«, fragte ich. Ich war so verblüfft, dass ich den eifersüchtigen Unterton nicht unterdrücken konnte.
»Na ja, zusammen ist nicht der richtige Ausdruck«, antwortete er und sah mich unverwandt an. »Aber ich war mal mit ihr zusammen. Wir haben sogar zusammengelebt.«
»Du – was ?«
»Ich habe mit ihr zusammengelebt. Sechs Monate.«
»Und was war dann?«, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Ich kam mir dumm vor, denn ich hatte keinerlei Recht, wütend oder eifersüchtig zu sein. Ich hatte Karla nie nach ihren Beziehungen gefragt und sie mich nicht nach meinen.
»Du weißt es nicht, oder?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich nicht fragen.«
»Sie hat sich von mir getrennt«, sagte er langsam, »etwa zu der Zeit, als du aufgetaucht bist.«
»Oh Scheiße, Mann …«
»Schon okay«, sagte er lächelnd.
Wir verfielen beide in Schweigen, versanken in unseren Erinnerungen. Ich sah Abdullah vor mir, an der Küstenmauer unweit der Haji-Ali-Moschee, an dem Abend, an dem ich ihm mit Khaderbhai begegnete. Ich erinnerte mich, wie er sagte, eine Frau habe ihm den klugen Satz auf Englisch beigebracht, den er damals äußerte. Das musste Karla gewesen sein. Und ich erinnerte mich an Khaleds Zurückhaltung, als wir uns kennen lernten. Plötzlich wurde mir klar, dass er damals wohl sehr verletzt war und mir die Schuld daran gab. Und ich konnte ermessen, was es ihn wohl gekostet haben musste, mir gegenüber so freundlich und fürsorglich zu sein.
»Weißt du, Lin«, sagte er nach einer Weile, »du musst wirklich vorsichtig sein mit Karla. Sie ist … wütend … weißt du? Und verletzt. Schlimm verletzt, an allen wichtigen Stellen. Die haben sie echt fertiggemacht als junges Mädchen. Sie ist ein bisschen verrückt. Sie hat damals irgendwas gemacht in den Staaten, bevor sie nach Indien kam. Und das hat ihr fast den Rest gegeben.«
»Was war das?«
»Ich weiß es nicht. Irgendetwas wirklich Schlimmes. Sie hat es mir nie erzählt. Wir haben immer darum herum geredet, wenn du weißt, was ich meine. Ich glaube, Khaderbhai wusste es, weil er sie als Erster kennen gelernt hat.«
»Das wusste ich auch nicht«, sagte ich und sann
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