Shantaram
– einer von vielen, die in Abdel Khaders muslimisch dominiertem Imperium tätig waren.
»Linbaba! Wie schön, dich zu sehen!«, sagte er strahlend. »Khaderbhai kahan hain?« Wo ist Khaderbhai?
Es fiel mir schwer, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Rajubhai war einer der Ältesten aus dem Klan, und er hatte einen Sitz im Rat inne. Wenn er nicht wusste, dass Khader tot war, wusste es niemand in der Stadt. Und wenn Khaders Tod bislang geheim gehalten worden war, mussten sich Mahmud und Nasir dafür entschieden haben. Sie hatten mich nicht in ihre Entscheidung eingeweiht. Ich wusste nicht, weshalb, beschloss aber, sie zu unterstützen, indem ich Stillschweigen bewahrte.
»Hum akela hain«, erwiderte ich und lächelte. Ich bin allein.
Das war keine Antwort, und Rajubhai verengte die Augen.
»Akela …«, wiederholte er. Allein …
»Ja, Rajubhai, und ich brauche Geld, schnell. Unten wartet ein Taxi auf mich.«
»Du brauchst Dollar, Lin?«
»Dollar nahin. Sirf rupia.« Keine Dollar. Nur Rupien.
»Wie viel?«
»Dodoteen hazaar«, antwortete ich mit dem Slang-Ausdruck für zwei-zwei-drei-tausend, was immer drei bedeutet.
»Teen hazaar!«, schnaufte er entrüstet, allerdings mehr aus Gewohnheit als aus echter Empörung. Dreitausend Rupien waren für die Geldwechsler auf der Straße oder im Slum eine beträchtliche Summe, im Vergleich mit den Gesamteinnahmen aus den Schwarzmarktgeschäften aber ein lächerlich geringer Betrag. In Rajubhais Zählraum kamen täglich hundertmal mehr zusammen, und er zahlte mir nicht selten sechzigtausend Rupien als Lohn und Anteil.
»Abi. Bhaiya, abi!«, sagte ich. Jetzt, Bruder, jetzt!
Rajubhai wandte sich einem seiner Angestellten zu und gab ihm mit den Augenbrauen ein Zeichen. Der Mann reichte dreitausend Rupien in gebrauchten, aber sauberen Scheinen über den Tisch. Rajubhai fächerte das Bündel routinemäßig auf und gab es mir dann. Zwei Scheine steckte ich in mein Hemd, den Rest verstaute ich in einer tieferen Tasche meiner langen Weste.
»Shukria, chacha«, sagte ich lächelnd. »Main jata hu.« Danke, Onkel. Ich muss jetzt los.
»Lin!«, rief Rajubhai und hielt mich am Ärmel fest. »Hamara beta Khaled, kaisa hain?« Wie geht es unserem Sohn Khaled?
»Khaled ist nicht bei uns«, antwortete ich, um einen neutralen Tonfall bemüht. »Er ist auf eine Reise, eine yatra gegangen, ich weiß nicht, wann wir ihn wiedersehen werden.«
Ich rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter, wobei mir jeder Schritt in die Waden stach. Der Taxifahrer fuhr sofort los, und ich gab ihm die Adresse eines Bekleidungsgeschäfts am Colaba Causeway. Zu den Freuden und Genüssen, die Bombay zu bieten hat, zählt die riesige Auswahl an hochwertigen erschwinglichen Kleidungsstücken, die immer an der neuesten indischen und internationalen Mode orientiert sind. Im Flüchtlingslager hatte mir Mahmud Melbaaf eine lange Weste aus blauem Sergestoff, ein weißes weites Hemd und grobe braune Hosen gegeben. Diese Sachen hatten mir auf der Reise gute Dienste geleistet, doch in Bombay waren sie zu warm, und um hier nicht aufzufallen, musste ich modisch gekleidet sein. Ich kaufte schwarze Jeans mit starken tiefen Taschen, ein Paar Joggingschuhe, die meine kaputten Stiefel ersetzen mussten, und ein weites weißes Seidenhemd. In der Umkleidekabine zog ich die Sachen an und steckte mein Messer in die Scheide am Gürtel, der durch das Hemd verdeckt war.
Als ich an der Kasse stand, fiel mein Blick auf einen schräg stehenden Spiegel. Mein Gesicht sah so hart und fremd aus, dass ich mich selbst kaum wiedererkannte. Ich dachte an das Bild, das der schüchterne Kishmishi aufgenommen hatte, und betrachtete mich prüfend. Eine kalte Gleichgültigkeit, vielleicht auch eine neue Entschlossenheit, entdeckte ich in meinen Zügen; von der Zuversicht, mit der ich damals in Khaleds Kamera geblickt hatte, war nichts mehr zu sehen. Ich setzte meine Sonnenbrille auf. Habe ich mich so sehr verändert? Ich hoffte, dass einige der harten Linien vielleicht weicher würden, wenn ich eine heiße Dusche nahm und meinen Bart abrasierte. Doch im Grunde war mir bewusst, dass ich diese Härte in mir trug. Und ich war mir nicht sicher, ob sie nur aus Zähigkeit und Entschlossenheit bestand oder aber aus etwas Brutalerem.
Ich wies den Taxifahrer an, mich vor dem Leopold’s abzusetzen. Nachdem ich bezahlt hatte, stand ich eine Minute auf der lärmenden Straße und starrte auf den Torbogen des Lokals, in dem
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