Shantaram
ist.«
Ich sah ihr nach, als sie hinausging, und als die Drinks kamen, bestand Didier darauf, dass ich mich zu ihm setzte.
»Mein lieber Freund, man kann eine Mahlzeit im Stehen zu sich nehmen, falls nötig, und man kann im Stehen den Liebesakt vollziehen, falls möglich. Aber man kann nicht im Stehen Whisky trinken. Das ist eine barbarische Tat. Ein Mann, der ein edles alkoholisches Getränk wie Whisky im Stehen trinkt, ohne einen Trinkspruch auf etwas Ehrenhaftes oder ein sinnvolles Vorhaben, ist ein Unhold – ein Mann, dem nichts heilig ist.«
Ich setzte mich ihm gegenüber an den Tisch, und er hob sein Glas.
»Auf die Lebenden!«, sagte er.
»Und die Toten?«, fragte ich, ohne mein Glas zu berühren.
»Und die Toten!«, bestätigte er mit breitem herzlichem Lächeln.
Ich stieß mit ihm an und leerte das Glas in einem Zug.
»So«, sagte Didier, nun schlagartig ernsthaft. »Was ist passiert?«
»Wo soll ich denn anfangen?«, versetzte ich grimmig.
»Nein, mein Freund. Ich meine nicht den Krieg. Da ist noch etwas. Ich sehe deinen entschlossenen Gesichtsausdruck, und ich möchte wissen, was es damit auf sich hat.«
Ich sah ihn stumm an, froh darüber, wieder mit einem Menschen sprechen zu können, der mich gut genug kannte, um jede Nuance meines Gesichtsausdrucks deuten zu können.
»Na komm schon, Lin. Du siehst gequält aus. Wo liegt das Problem? Wenn es dir leichter fällt, zuerst über Afghanistan zu sprechen, kannst du auch damit anfangen.«
»Khader ist tot«, sagte ich tonlos und starrte auf das leere Glas in meiner Hand.
»Nein!«, sagte er, entsetzt und aufgebracht zugleich.
»Doch.«
»Nein, nein, nein. Das hätte ich gehört … das würde doch die ganze Stadt schon wissen.«
»Ich habe seine Leiche mit eigenen Augen gesehen. Ich habe mitgeholfen, ihn den Berg hochzuziehen in unser Lager. Ich habe mitgeholfen, ihn zu begraben. Er ist tot. Sie sind alle tot. Nur Nasir, Mahmud und ich sind übrig geblieben von der ganzen Truppe.«
»Abdel Khader … Das ist unmöglich …«
Didier war aschfahl geworden; sogar seine Augen wirkten fahl. Er war so erschüttert, dass er in seinem Stuhl zusammensank und sein Kinn nach unten sackte, als habe ihn jemand ins Gesicht geschlagen. Als er auch noch seitwärts kippte, fürchtete ich, dass er in Ohnmacht fallen oder einen Schlaganfall kriegen würde.
»Nimm es nicht so schwer«, sagte ich ruhig. »Und kollabier mir jetzt bloß nicht, Didier. Du siehst völlig fertig aus, Mann. Reiß dich zusammen!«
Mühsam wandte er mir den Blick zu.
»Es gibt Dinge, die sind einfach unmöglich, Lin. Ich bin seit zwölf oder dreizehn Jahren in Bombay, und Abdel Khader Khan war immer da …«
Er ließ wieder den Kopf hängen und versank so tief in seinen Erinnerungen, dass sein Kopf unkontrolliert zuckte und seine Unterlippe zitterte. Ich war ernsthaft beunruhigt, denn ich erlebte es nicht zum ersten Mal, dass ein Mann den Verstand verlor. Im Gefängnis hatte ich miterlebt, wie Männer vor Angst und Scham zusammenbrachen und die Einsamkeit ihnen dann den Rest gab. Das war allerdings ein Prozess, der sich über Wochen, Monate oder Jahre hinzog. Didiers Zusammenbruch war das Werk von Sekunden; vor meinen Augen schien er förmlich von einem Herzschlag zum nächsten zu verfallen.
Ich stand auf, setzte mich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Didier!«, flüsterte ich drängend. »Ich muss los. Hörst du mich? Ich bin hergekommen, weil ich wissen wollte, wo meine Sachen sind – die Sachen, die ich bei dir gelassen habe, als ich zu Gupta-ji ging. Weißt du noch? Ich habe mein Motorrad bei dir gelassen, die Enfield. Und Pässe, Geld und noch anderes Zeug. Weißt du noch? Ich brauche diese Sachen jetzt, Didier. Es ist sehr wichtig. Erinnerst du dich?«
»Ja, sicher«, antwortete er und rappelte sich mühsam auf. »Deine Sachen sind unversehrt, keine Sorge. Ich habe alles aufbewahrt.«
»Hast du noch die Wohnung in der Merriweather Road?«
»Ja.«
»Sind die Sachen dort? Hast du sie dort aufbewahrt?«
»Was?«
»Verflucht nochmal, Didier, nun komm zu dir! Los doch! Wir werden jetzt zusammen zu deiner Wohnung gehen. Ich muss mich rasieren und duschen und in die Gänge kommen. Ich muss … ich muss etwas Wichtiges erledigen. Ich brauche dich, Mann. Lass mich jetzt bloß nicht hängen!«
Didier blinzelte, wandte den Kopf und sah mich mit seinem vertrauten spöttischen Lächeln an.
»Was hat diese Bemerkung wohl zu bedeuten?«, fragte er indigniert.
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