Shantaram
irgendjemand, irgendeine Erfahrung mein Herz versteinert hatte. Dieser Stein in meiner Brust war das Einzige, was mich vor den ersten Klängen und Bildern während Prabakers Führung zu den dunklen Seiten der Stadt zu schützen vermochte.
Ein Händeklatschen setzte ein, worauf sich ein kleines Mädchen von der Bank erhob und zu tanzen begann. Dazu sang sie ein Liebeslied aus einem populären Hindi-Film. Ich sollte es in den kommenden Jahren noch oft hören, hunderte Male, und jedes Mal musste ich an diese kleine Zehnjährige und ihre erstaunlich kräftige Stimme denken, die in den Höhen ein wenig dünner klang. Sie ahmte in kindlicher Übertreibung eine Verführungsszene nach, wiegte sich in den Hüften und streckte den Männern ihre nicht vorhandenen Brüste entgegen. Mit neu erwachtem Interesse wandten sich die Käufer und Agenten dem Mädchen zu.
Prabaker kommentierte das Geschehen wie in einem antiken Epos. Unermüdlich erläuterte er mir mit seiner sanften Stimme alles, was wir sahen, und alles, was er wusste. Er erklärte mir, dass die Kinder nicht überlebt hätten, wären sie nicht auf diesem Leutemarkt gelandet. Er berichtete, wie professionelle Werber, sogenannte Talentsucher, von Krisengebiet zu Krisengebiet zogen – von Dürre zu Erdbeben zu Überschwemmung. Hungernde Eltern, die schon Krankheit und Tod von einem oder mehreren ihrer Kinder hatten erleben müssen, priesen das Erscheinen der Werber, knieten vor ihnen nieder und küssten ihre Füße. Sie flehten die Talentsucher an, ihnen einen Sohn oder eine Tochter abzukaufen, damit wenigstens eines ihrer Kinder überlebte.
Die Jungen, die hier zum Verkauf standen, würden Kameljockeys in Saudi-Arabien, Kuwait und anderen Golfstaaten werden. Einige von ihnen, sagte Prabaker, würden dabei sicherlich bei den Kamelrennen, die sich die reichen Scheichs am Nachmittag zum Zeitvertreib ansahen, verletzt werden. Einige würden sterben. Wenn sie zu groß waren, um Rennen zu reiten, wurden die überlebenden Jungen nicht selten ausgesetzt und mussten sich allein durchschlagen. Die Mädchen würden alle in Haushalten irgendwo im Mittleren Osten arbeiten. Einige würden wohl auch zum Sex benutzt werden.
Aber, sagte Prabaker, immerhin seien sie am Leben, diese Jungen und Mädchen. Sie könnten sich glücklich schätzen. Für jedes Kind, das auf dem Leutemarkt lande, gebe es hundert oder noch mehr andere Kinder, die unter unsäglichen Qualen verhungerten.
Die Hungernden, die Toten, die Sklaven. Stetig begleitet von Prabakers raunender wispernder Stimme. Es gibt eine Wahrheit, die tiefer liegt als Erfahrung. Man findet sie jenseits dessen, was wir sehen und fühlen. Diese Form der Wahrheit unterscheidet das aufrichtige Empfinden von einfacher Klugheit. Für gewöhnlich fühlen wir uns hilflos, wenn wir ihr begegnen; und der Preis, den wir für das Wissen um sie bezahlen, ist, wie der Preis für das Wissen um die Liebe, manchmal höher, als das Herz zu geben bereit ist. Sie kann uns nicht immer helfen, die Welt zu lieben, doch sie bewahrt uns davor, die Welt zu hassen. Und der einzige Weg, diese Wahrheit zu erleben, besteht darin, sie zu offenbaren, von Seele zu Seele, so wie Prabaker sie mir offenbarte, so wie ich sie nun euch offenbare.
V IERTES K APITEL
K ennst du den Borsalino-Test?«
»Den was?«
»Den Borsalino-Test. Mit dem kann man herausfinden, ob ein Hut ein echter Borsalino ist oder nur ein minderwertiges Imitat. Du kennst dich doch aus mit Borsalinos, oder?«
»Nein, kann ich nicht behaupten.«
»Aaaah!« Didiers Lächeln wirkte erstaunt, schelmisch und verächtlich zugleich, was insgesamt einen entwaffnend charmanten Effekt hatte. Er beugte sich vor und legte den Kopf schief, und seine schwarzen Locken wippten, als wollten sie seine Erklärung unterstreichen. »Der Borsalino ist ein Kleidungsstück von höchster und bester Qualität. Viele, mich übrigens eingeschlossen, halten ihn für die bemerkenswerteste Kopfbedeckung, die es je für uns Männer gab.«
Er hob die Hände über den Kopf und beschrieb die Form eines Huts. »Er ist schwarz oder weiß und hat eine breite Krempe. Und er ist aus dem Fell eines lapin gefertigt.«
»Das heißt, es ist also einfach ein Hut«, bemerkte ich in möglichst verständnisinnigem Tonfall. »Ein Kaninchenfellhut.«
Didier war empört.
»Einfach ein Hut? Oh nein, mein Freund! Der Borsalino ist mehr als einfach ein Hut. Der Borsalino ist ein Kunstwerk! Er wird zehntausendmal von Hand gebürstet, bevor er
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