Shantaram
Segeltuchstücken verdeckte den größten Teil des Himmels. Wir waren umgeben von kahlen braunen und purpurroten Wänden. Die wenigen Fenster, die ich durch Risse in der Abdeckung sehen konnte, hatte man mit Brettern vernagelt. Der fast quadratische Platz war kein echter Hof, stellte ich fest, kein Ergebnis sorgfältiger Planung, sondern gleichsam ein Irrtum, eine Art architektonischer Zufall, entstanden aus der Tatsache, dass in diesem eng bebauten Teil der Stadt auf den Ruinen alter Häuser immer neue Gebäude errichtet wurden. Der Boden bestand aus einem Sammelsurium von Fliesen aus diversen Küchen und Bädern. Zwei nackte Glühbirnen – seltsame Früchte an verdorrten Reben nackter Kabel – spendeten schwaches Licht.
Wir traten in eine ruhige Ecke, nahmen den angebotenen Tee entgegen, tranken ihn und verfielen in Schweigen. Nach einer Weile erklärte mir Prabaker langsam und leise, was es mit diesem Ort auf sich hatte, den er Leutemarkt nannte. Die Kinder, die unter dem schäbigen Baldachin saßen, waren Sklaven. Sie kamen aus dem Wirbelsturm, der in West Bengal gewütet hatte, aus der Dürre in Orissa, der Cholera-Epidemie in Haryana, den Separatistenkämpfen im Punjab. Diese Katastrophenkinder waren von Kundschaftern aufgespürt und gekauft und dann mit dem Zug nach Bombay geschickt worden. Viele hundert Kilometer weit, oft alleine.
Die Männer hier im Hof waren Käufer oder Agenten. Obwohl sie mehr Interesse an ihrer Unterhaltung als an den Sklaven zu haben schienen und die Kinder auf der Holzbank größtenteils ignorierten, versicherte mir Prabaker, dass sie in diesem Augenblick – zwar verhalten, aber doch ernsthaft – Preise verhandelten und Geschäfte abschlossen.
Die Kinder waren klein und dünn und wirkten hilflos. Zwei von ihnen hielten sich an den Händen. Ein Kind hatte seinen Arm beschützend um ein anderes gelegt. Alle starrten zu den wohlgenährten, gut gekleideten Käufern und Agenten hinüber und verfolgten jede Veränderung in deren Mienen, jede Geste ihrer beringten Hände. Und in den Augen dieser Kinder schimmerte die Dunkelheit wie in den Tiefen eines Süßwasserbrunnens.
Was muss geschehen, damit das Herz eines Menschen verhärtet? Wie konnte ich mir das alles anschauen, wie konnte ich diese Kinder sehen, ohne einzuschreiten? Warum habe ich nicht die zuständigen Behörden benachrichtigt? Warum habe ich mir keine Pistole besorgt und dem Ganzen selbst ein Ende bereitet? Wie auf alle wichtigen Fragen gab es darauf nicht eine, sondern gleich mehrere Antworten. Ich stand auf Fahndungslisten, ich war ein Krimineller auf der Flucht; ich konnte mich nicht an die Polizei oder irgendwelche Behörden wenden. In diesem fremden Land war ich ein Fremder; Indien war nicht meine Heimat, war nicht meine Kultur. Ich hätte mehr wissen, zumindest aber die hier gesprochene Sprache beherrschen müssen, um mich einzumischen. Außerdem hatte ich am eigenen Leib erfahren, dass wir manchmal selbst mit den besten Absichten eine Situation verschlimmern, obwohl wir sie doch verbessern wollen. Wenn ich mir eine Pistole besorgt hätte und dem Sklavenmarkt hier, in diesem verwinkelten Labyrinth, ein Ende bereitet hätte, dann wäre woanders ein neuer entstanden. Soviel wusste auch ich als Fremder. Und vielleicht wäre dieser neue Sklavenmarkt an einem anderen Ort noch schlimmer geworden als dieser hier. Ich konnte nichts dagegen tun, und ich war mir dessen bewusst.
Was ich mir damals nicht erklären konnte und was mich noch lange nach diesem Tag beschäftigte, war die Frage, wie ich mich auf dem Gelände des Sklavenmarktes aufhalten und diese Kinder sehen konnte, ohne am Boden zerstört zu sein. Erst viel später verstand ich, dass es nicht zuletzt auf die australischen Gefängnisse und die Männer zurückzuführen war, denen ich dort begegnet war. Einige dieser Männer – zu viele von ihnen – saßen bereits ihre vierte oder fünfte Haftstrafe ab. Viele waren nicht älter gewesen als diese indischen Sklavenkinder, als sie ihre Haftkarrieren in Erziehungsanstalten begonnen hatten – in Jugendstrafanstalten und Heimen für schwer erziehbare Kinder. Manche von ihnen waren geschlagen, ausgehungert und in Einzelhaft gesteckt worden. Andere waren sexuell missbraucht worden. Jeder Mann mit hinlänglicher Hafterfahrung wird bestätigen, dass es zur Verhärtung eines Herzens nichts weiter braucht als den Strafvollzug.
Und so seltsam und beschämend es auch ist, es einzugestehen: Ich war froh, dass irgendetwas,
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