Shantaram
über den Ladentisch geht. Jahrzehntelang wurde er von sämtlichen stilbewussten französischen und italienischen Gangstern in Mailand und Marseille getragen. Der Name Borsalino wurde sogar zu einem regelrechten Synonym für ›Gangster‹ – man nannte damals die wilden jungen Männer der Unterwelt von Mailand und Marseille Borsalini. Das war die Zeit, als die Gangster noch Stil hatten. Sie begriffen, dass man als Bandit, der sein Geld mit Diebstahl und Schießereien verdient, die Verpflichtung hat, sich mit einer gewissen Eleganz zu kleiden. So ist es doch, oder?«
»Das ist das Mindeste, was man tun kann«, stimmte ich lächelnd zu.
»Natürlich! Aber heutzutage ist alles nur noch aufgesetzt, wahrhaft stilvoll ist niemand mehr. Es ist ein typisches Zeichen unserer Zeit, dass die Pose zum Stil wird und der Stil nur noch Pose ist.«
Er hielt einen Moment inne, damit ich sein Aperçu würdigen konnte.
»Den Borsalino-Test also«, fuhr er dann fort, »machst du, indem du den Hut ganz fest zusammenrollst – zu einer Art langer, dünner Röhre – und ihn dann durch einen Ehering schiebst. Wenn der Hut das ohne bleibende Knicke übersteht, wenn er direkt nach dem Test wieder in seine ursprüngliche Form zurückspringt und bei diesem Experiment keinen Schaden nimmt – dann ist es ein echter Borsalino.«
»Und du meinst …«
»Genau!«, rief Didier und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Es war acht Uhr abends, und wir saßen im Leopold’s, in der Nähe der Torbögen zum Causeway. Ein paar Ausländer am Nachbartisch schauten herüber, um zu sehen, wer diesen Radau veranstaltete, doch die Angestellten und Stammgäste beachteten den Franzosen gar nicht. Didier aß, trank und empörte sich nun schon seit neun Jahren im Leopold’s. Alle hier wussten, dass es eine bestimmte Toleranzgrenze für Didier gab und dass er zu einem gefährlichen Mann werden konnte, wenn man diese überschritt. Und sie wussten auch, dass diese Grenze nicht im weichen Sand seines eigenen Lebens, seiner Überzeugungen oder Gefühle verlief. Didiers Grenze war durch die Herzen derer gezogen, die er liebte. Wenn man diese Menschen in irgendeiner Weise verletzte, ergriff eine kalte, tödliche Wut von ihm Besitz. Nur wenn es um ihn selbst ging, konnte man tun oder sagen, was man wollte – er war nie ernstlich beleidigt oder verärgert, es sei denn, es handelte sich um Körperverletzung.
»Comme ça! Genau das meine ich! Dein kleiner Freund Prabaker hat den Hut-Test mit dir gemacht. Er hat dich zu einer Röhre zusammengerollt und durch den Ehering gezogen, um zu sehen, ob du ein echter Borsalino bist. Das war der einzige Zweck dieser Führung. Die schlimmen Bilder und Eindrücke, die er dir zugemutet hat, waren nichts anderes als ein Borsalino-Test.«
Ich trank schweigend einen Schluck Kaffee. Ich wusste zwar, dass Didier recht hatte – Prabakers Führung zu den dunklen Seiten der Stadt war wirklich eine Art Test gewesen –, wollte ihm diesen Triumph aber nicht gönnen.
Die spätnachmittägliche Schar von Touristen aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich, England, Norwegen, Amerika, Japan und einem Dutzend anderer Länder räumte allmählich das Feld und machte den Indern und in Bombay lebenden Ausländern Platz, die abends im Leopold’s verkehrten. Abend für Abend, wenn die Touristen sich wieder in die Sicherheit ihrer Hotels zurückzogen, wurden Lokale wie das Leopold’s, das Mocambo, das Café Mondegar oder das Light of Asia wieder von den Ortsansässigen in Beschlag genommen.
»Wenn es tatsächlich ein Test war«, räumte ich schließlich ein, »nehme ich doch an, dass ich ihn bestanden habe. Er hat mich nämlich eingeladen, seine Familie mit ihm zu besuchen, in seinem Heimatdorf im Norden von Maharashtra.«
Didier zog dramatisch übertrieben die Augenbrauen hoch.
»Für wie lange?«
»Ich weiß nicht. Für ein paar Monate, glaube ich. Vielleicht auch länger.«
»Ah, dann ist es also tatsächlich so«, sagte er. »Dein kleiner Freund beginnt dich zu lieben.«
»Na ja, das ist vielleicht doch etwas übertrieben«, wandte ich mit gerunzelter Stirn ein.
»Nein, nein, du verstehst das nicht. Man muss mit der Zuneigung der Menschen, die man hier kennen lernt, sorgsam umgehen. Wir sind in Indien, vergiss das nicht. Hier geht es anders zu als überall sonst auf der Welt. Jeder, der hierherkommt, verliebt sich – die Meisten von uns immer wieder. Die Inder aber lieben am heftigsten. Dein kleiner Freund beginnt dich wohl aufrichtig
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