Shantaram
zu lieben. Das darf dir weder seltsam noch befremdlich erscheinen. Ich sage das aus langer Erfahrung mit diesem Land. So gelingt es diesen Milliarden von Menschen, einigermaßen friedlich zusammenzuleben. Natürlich sind sie nicht vollkommen. Sie wissen sehr wohl, wie man kämpft, sich anlügt, sich betrügt und was wir sonst noch so alles tun. Aber vor allem wissen die Inder, wie man liebt.«
Er zündete sich eine Zigarette an und schwenkte sie dann wie einen kleinen Fahnenmast, bis der Kellner ihn bemerkte und ihm mit einem Nicken bedeutete, dass er seine Bestellung eines weiteren Wodka verstanden hatte.
»Indien ist ungefähr sechsmal so groß wie Frankreich«, fuhr Didier fort, als der Wodka und eine Schale Curry-Snacks gebracht wurden. »Aber hier leben zwanzigmal so viele Einwohner. Zwanzigmal! Glaub mir, wenn eine Milliarde Franzosen auf so engem Raum zusammenleben müssten, gäbe es Mord und Totschlag. Mord und Totschlag! Und dabei sind wir Franzosen – wie jeder weiß – das zivilisierteste Volk Europas. Ach, was sage ich! Sogar der ganzen Erde! Nein, nein, ohne die Liebe könnte Indien nicht existieren.«
Letitia kam an unseren Tisch und ließ sich links neben mir nieder.
»Worüber ereiferst du dich denn wieder, Didier, alter Schwerenöter?«, fragte sie in ihrem harten Süd-Londoner Akzent freundlich.
»Er hat mir gerade erklärt, dass die Franzosen das zivilisierteste Volk der Welt sind.«
»Wie jeder weiß«, fügt Didier hinzu.
»Wenn aus euren Weingärten und villages irgendwann mal ein Shakespeare hervorgeht, stimme ich dir womöglich zu«, murmelte Lettie mit einem herzlichen und zugleich herablassenden Lächeln.
»Meine Liebe, du darfst nicht glauben, dass ich euren Shakespeare nicht achten würde«, konterte Didier und lachte vergnügt. »Ich liebe die englische Sprache, weil so viel davon französisch ist!«
»Touché«, sagte ich grinsend, »wie man auf Englisch sagt.«
In diesem Moment kamen Ulla und Modena herein und setzten sich zu uns. Ulla war schon für die Arbeit aufgemacht; sie trug ein eng anliegendes rückenfreies Neckholder-Kleid, Netzstrümpfe und hochhackige Schuhe. An Hals und Ohren glitzerte Strassschmuck. Der Kontrast zwischen ihrer und Letties Kleidung hätte größer kaum sein können: Lettie trug eine elfenbeinfarbene Brokatjacke, einen Hosenrock aus dunkelbraunem Satin und Stiefel. Doch der Unterschied zwischen den Gesichtern der beiden Frauen war noch augenfälliger. Letties Blick war verführerisch, direkt und selbstsicher, und in ihren Augen funkelten Mysterien und eine kokette Intelligenz. In Ullas großen Augen dagegen las man – ihrer aufreizenden Kleidung und der grellen Aufmachung zum Trotz – nur Unschuld – aufrichtige ahnungslose Unschuld.
»Du darfst heute nicht mit mir reden, Didier«, sagte Ulla zur Begrüßung und zog einen Schmollmund. »Ich habe gestern drei sehr unangenehme Stunden mit Federico verbracht, und das ist allein deine Schuld!«
»Federico!«, stieß Didier hervor. »Pah!«
»Oooh«, machte Lettie. »Gibt’s was Neues vom schönen jungen Federico? Komm, Ulla, Schätzchen, raus mit der Sprache! Wir wollen alles hören, was du an Klatsch und Tratsch zu bieten hast.«
»Na ja, Federico hat die Religion entdeckt und macht mich schier wahnsinnig damit, und daran ist nur Didier schuld.«
»Ja!«, fügte Didier sichtlich angewidert hinzu. »Federico ist fromm geworden. Es ist eine Tragödie. Seitdem trinkt er nicht mehr, raucht nicht mehr und verzichtet auf Drogen. Und auf Sex natürlich auch – sogar mit sich selbst! Das ist eine empörende Talentvergeudung. Dieser Mann war ein wahrer Ausbund an Verderbtheit, ein Genie – mein bester Schüler, mein Meisterwerk! Es ist zum Verzweifeln. Jetzt ist er doch tatsächlich ein guter Mensch, im schlechtesten Sinne des Wortes.«
»Ach ja«, seufzte Lettie gespielt mitleidig. »Des einen Freud’ ist des anderen Leid. Lass dich davon nicht runterziehen, Didier. Du wirst noch andere Fische an die Angel kriegen, die du dir einverleiben kannst.«
»Mit mir solltest du Mitleid haben«, schimpfte Ulla. »Nachdem Federico gestern von Didier kam, war er in so schlechtem Zustand, dass er heute in Tränen aufgelöst vor meiner Tür stand. Scheiße! Wirklich! Drei Stunden lang hat er geflennt und mich voll gelabert. Von wegen, dass er wiedergeboren sei. Am Ende hat er mir nur noch leidgetan. Und als Modena ihn mitsamt seinen Erweckungsschriften auf die Straße gesetzt hat, hat es mir fast das Herz
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