Shantaram
Freund.«
»Oje«, seufzte ich. »Tut mir leid.«
»Ist es immer noch Karla?«, fragte sie und betrachtete eingehend den Vorhang, der sich hob und senkte. »Bist du immer noch in sie verliebt?«
»Nein.«
»Aber du liebst sie noch.«
»Ja.«
»Und … wie stehst du zu mir?«
Ich antwortete ihr nicht, weil ich ihr die Wahrheit nicht offenbaren wollte. Ich wollte sie mir selbst nicht eingestehen. Das Schweigen zwischen uns schwoll an und wurde so schwer, dass es auf mir zu lasten begann.
»Ich habe da einen Freund«, sagte sie schließlich. »Er ist Künstler. Bildhauer. Er heißt Jason. Kennst du ihn?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Er ist Engländer, und er sieht die Welt ganz anders als wir Amerikaner. Er hat ein großes Studio draußen am Juhu Beach. Da bin ich manchmal.«
Sie verfiel wieder in Schweigen. Wir saßen da und ließen uns den Wind, der aus der Bucht oder von der Straße hereinwehte, warm und kühl über die Haut streichen. Ich spürte ihren Blick auf mir wie ein schamvolles Erröten. Und starrte auf unsere Hände, die ineinander verschlungen auf der Decke ruhten.
»Beim letzten Mal, als ich ihn besucht hab, arbeitete er an einer neuen Idee. Er füllte leere Verpackungen mit Gips, weißt du, diese Plastikhüllen, in denen Spielsachen stecken, oder die Schaumstoffteile von Fernsehern. ›Negative Räume‹ nennt er die. Er benutzt sie als Form und fügt sie zu einer Skulptur zusammen. Er hatte Hunderte von Sachen da – Formen aus Eierkartons, der Klarsichtfolie von einer Zahnbürste, die leere Packung von einem Kopfhörer.«
Ich wandte den Kopf und sah sie an. Am Himmel in ihren Augen zog ein Sturm auf. Ihre Lippen, von heimlichen Gedanken geprägt, entfalteten sich zu der Wahrheit, die sie mir offenbaren wollte.
»Ich bin da in seinem Studio herumgewandert und hab mir diese weißen Skulpturen angeschaut, und ich dachte: so bin ich. So war ich schon immer, mein ganzes Leben lang. Negativer Raum. Immer habe ich auf jemanden oder etwas oder auf irgendein echtes Gefühl gewartet, das mich erfüllen und mir Sinn geben könnte …«
Als ich sie küsste, tobte der Sturm aus ihren Augen in unserem Mund, und die Tränen, die über ihre zitronig duftende Haut rannen, waren süßer als der Honig von den heiligen Bienen in Mombadevis Jasmine Temple Garden. Ich ließ sie für uns weinen. Ich ließ sie für uns leben und sterben in den langen und langsamen Geschichten, die unsere Körper sich erzählten. Als die Tränen versiegten, umgab sie uns mit ruhiger fließender Schönheit – eine Schönheit, die nur ihr gebührte, denn sie war geboren in ihrem mutigen Herzen, und sie nahm Gestalt an in der Wahrheit ihrer Liebe und ihrer Berührung. Und es hätte beinahe geholfen.
Wir küssten uns noch einmal, bevor ich hinausging – gute Freunde, Liebende, für immer ineinander geborgen durch die Wucht und die Zärtlichkeit unserer Körper, doch noch nicht ganz gesund, noch nicht ganz geheilt. Noch nicht.
»Sie ist immer noch da, nicht wahr?«, sagte Lisa, schlang ein Handtuch um sich und trat ans Fenster.
»Ich hab heute den Blues, Lisa. Ich weiß nicht, warum. Es war ein langer Tag. Aber das hat nichts mit uns zu tun. Du und ich … das war gut – für mich jedenfalls.«
»Für mich auch, Lin. Aber ich glaube dennoch, dass sie noch da ist.«
»Nein, ich habe dich vorhin nicht belogen. Ich bin nicht mehr in Karla verliebt. Irgendetwas ist passiert, als ich aus Afghanistan zurückkam. Oder vielleicht ist es auch in Afghanistan passiert. Das Gefühl … war einfach weg.«
»Ich will dir etwas erzählen«, murmelte Lisa. Sie wandte sich um und fuhr mit klarerer Stimme fort: »Es geht um sie. Ich glaube dir, aber ich denke, du solltest das wissen, bevor du ganz sicher sein kannst, dass es wirklich vorbei ist.«
»Ich brauche keine –«
»Bitte, Lin! Das ist eine typische Frauensache. Ich muss es dir erzählen, weil du nicht wirklich beurteilen kannst, ob es wirklich vorbei ist, solange du die Wahrheit über sie nicht weißt – solange du nicht weißt, was sie antreibt. Wenn ich es dir erzählt habe, und du fühlst dich hinterher nicht anders als jetzt, dann weiß ich, dass du frei bist.«
»Und wenn ich mich doch anders fühlen sollte?«
»Nun, dann verdient sie vielleicht eine zweite Chance. Keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, dass ich Karla nie verstanden habe, bis sie mir das erzählt hat. Deshalb … musst du es auch wissen, finde ich. Und falls aus uns etwas wird, möchte ich auch, dass wir
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