Shantaram
können, ohne die Atmosphäre zu sehr zu beeinträchtigen. Die Kellner begrüßten mich mit breitem Lächeln und nannten mich gaoalay, Landmann, das indische Gegenstück zum italienischen paesano. Sie kannten mich gut – den Gora, der Marathi sprach –, und wir unterhielten uns eine Weile in dem Dialekt, den ich vor über vier Jahren in Sunder gelernt hatte.
Die Gerichte wurden serviert, und die Männer aßen mit gutem Appetit. Ich war auch hungrig, konnte aber nichts zu mir nehmen und schob das Essen auf dem Teller herum. Ich trank zwei Tassen schwarzen Kaffee und versuchte mich dem finsteren Sturm in meinem Kopf zu entziehen und mich am Gespräch zu beteiligen. Amir erzählte von einem Film, den er am Abend vorher gesehen hatte – ein Hindi-Gangsterfilm, in dem die Gangster fiese Halunken waren, die der Held unbewaffnet und im Alleingang fertigmachte. Er schilderte ausführlich jede Kampfszene, und die Männer johlten vor Lachen. Amir war ein gedrungener Mann mit vernarbtem Gesicht, dichten wirren Augenbrauen und einem üppigen Schnauzbart auf seiner geschwungenen Oberlippe, der mich an den Bug eines kaschmirischen Hausboots erinnerte. Er lachte so gerne, wie er Geschichten erzählte, und seine sonore volltönende Stimme sorgte stets dafür, dass man ihm zuhörte.
Amirs ständiger Begleiter Faisal war Preisboxer in der Jugendliga gewesen. Nachdem er ein Jahr lang in harten Profikämpfen angetreten war, stellte er an seinem neunzehnten Geburtstag fest, dass sein Manager sämtliche Einnahmen aus den Kämpfen veruntreut und ausgegeben hatte. Faisal spürte den Manager auf und schlug so lange auf ihn ein, bis der Mann tot war. Dafür saß er acht Jahre im Gefängnis und erhielt lebenslängliches Boxverbot. Während seiner Haftzeit wurde aus dem naiven hitzigen Jugendlichen ein kühl berechnender Mann. Einer von Khaderbhais Talentscouts hatte ihn im Gefängnis angeworben, und in den letzten drei Jahren seiner Haftstrafe wurde Faisal für die Mafia ausgebildet. Seit seiner Entlassung vor vier Jahren war er als Amirs Ausputzer im florierenden Schutzgeldracket im Einsatz. Er war schnell, skrupellos und erpicht darauf, jede Aufgabe, die man ihm zuwies, perfekt zu erledigen. Seine Boxernase und eine Narbe, die seine linke Augenbraue spaltete, verliehen seinem eher glatten und hübschen Gesicht eine bedrohliche Note.
Das waren die neuen Mafia-Dons, die neuen Herren der Stadt: Sanjay, der skrupellose Killer mit dem Gesicht eines Filmstars; Andrew, der freundliche Bursche aus Goa, der davon träumte, sich einen Sitz im Rat zu erarbeiten; Amir, der ergraute Veteran mit dem Talent fürs Erzählen; Faisal, der kaltblütige Mann fürs Grobe, der nur eine Frage stellte, wenn er einen Auftrag bekam: Finger, Arm, Bein oder Hals?; Farid, genannt der Macher, der Probleme mit Feuer und Angst löste und alleine im Slum sechs jüngere Geschwister großgezogen hatte, nachdem seine Eltern an der Cholera gestorben waren; und Salman, der Stille, der Bescheidene, der geborene Anführer, der das Leben von Hunderten von Männern lenkte in diesem kleinen Reich, das er geerbt und mit Gewalt verteidigt hatte.
Diese Männer waren meine Freunde. Sie waren sogar mehr als das: Sie waren meine Brüder in der Bruderschaft des Verbrechens. Wir waren durch unser Blut verbunden – nicht nur zwangsläufig durch das Blut anderer – und durch unsere bedingungslose Ergebenheit. Wenn ich sie brauchte, würden sie da sein – unabhängig davon, was ich getan hätte oder was ich von ihnen verlangte. Und wann immer sie mich brauchten, war ich zur Stelle, ohne Zaudern und Klagen. Sie wussten, dass sie auf mich zählen konnten. Sie wussten, dass ich Khader gefolgt war, als er mich bat, mit ihm in seinen Krieg zu ziehen, und dass ich für ihn mein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Und ich wusste, dass ich auf sie zählen konnte. Als ich Abdullah brauchte, um Maurizios Leiche loszuwerden, war er zur Stelle gewesen. Es ist ein echter Vertrauenstest, wenn man jemanden bittet, die Leiche eines Ermordeten zu entsorgen. Die wenigsten bestehen ihn. Von den Männern am Tisch hatte ihn jeder bestanden, einige sogar mehrmals. Sie waren ein starkes Team. Das ideale Team für mich, einen Verbannten, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt war. Ich hatte mich noch nie so unangreifbar gefühlt – nicht einmal unter Khaders Schutz –, und ich hätte mich niemals alleine fühlen müssen.
Doch ich war allein, und zwar aus zweierlei Gründen. Die Mafia war ihre Organisation,
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