Shantaram
entspannen.
In den nächsten drei Stunden dieses Höllenritts erklommen wir den Kamm einer Bergkette, die ein ausgedehntes Hochland, den Dekhan, begrenzte, und fuhren wieder auf die fruchtbaren Ebenen des Plateaus hinab. Als wir schließlich an einer verlassenen und staubigen kleinen Haltestelle ausstiegen, die von einer zerfetzten, am Ast eines schlanken Baums flatternden Fahne markiert wurde, dankten wir dem Himmel und freuten uns wie nie zuvor des Lebens, dieses vergänglichen Geschenks. Eine Stunde später hielt ein zweiter Bus vor uns.
»Gora kaun hain?«, fragte der Fahrer, als wir die Stufen erklommen. Wer ist dieser Weiße?
»Maza mitra ahey«, entgegnete Prabaker betont lässig. Er konnte seinen Stolz nur mühsam verbergen. Er ist mein Freund.
Die Unterhaltung fand auf Marathi statt, der Sprache des Staates Maharashtra, dessen Hauptstadt Bombay ist. Damals verstand ich kaum etwas, doch während der nächsten Monate in Prabakers Dorf wurden dieselben Fragen und Antworten so oft wiederholt, dass ich die Meisten dieser Sätze und ihre leicht abgeänderten Varianten irgendwann auswendig kannte.
»Was treibt er hier?«
»Er besucht meine Familie.«
»Woher kommt er?«
»Aus Neuseeland«, antwortete Prabaker.
»Neuseeland?«
»Ja, Neuseeland. In Europa.«
»Viel Geld in Neuseeland?«
»Ja, natürlich. Viel. Da wohnen lauter reiche Weiße.«
»Spricht er Marathi?«
»Nein.«
»Hindi?«
»Nein. Nur Englisch.«
»Nur Englisch?«
»Ja.«
»Warum?«
»In seinem Land wird kein Hindi gesprochen.«
»Was? Da wird kein Hindi gesprochen?«
»Nein.«
»Kein Marathi? Und kein Hindi?«
»Nein. Nur Englisch.«
»Grundgütiger! Der arme Kerl.«
»Ja.«
»Wie alt ist er?«
»Dreißig.«
»Er sieht älter aus.«
»Das tun sie alle. Die Europäer sehen alle älter und wütender aus, als sie eigentlich sind. Das ist was typisch Weißes.«
»Ist er verheiratet?«
»Nein.«
»Nicht verheiratet? Dreißig und nicht verheiratet? Was ist denn verkehrt mit ihm?«
»Er ist Europäer. Viele von denen heiraten erst, wenn sie alt sind.«
»Das ist ja verrückt.«
»Ja.«
»Und sein Beruf?«
»Lehrer.«
»Das ist gut.«
»Ja.«
»Und seine Eltern? Hat er Mutter und Vater?«
»Ja.«
»Wo sind sie?«
»In seiner Heimat. In Neuseeland.«
»Warum ist er nicht bei ihnen?«
»Er ist auf Reisen. Er schaut sich die ganze Welt an.«
»Warum?«
»Das machen die Europäer so. Sie arbeiten eine Weile, und dann reisen sie eine Weile herum, einsam und allein, ohne Familie, bis sie alt geworden sind, und dann heiraten sie und werden sehr ernst.«
»Das ist ja verrückt.«
»Ja.«
»Er muss ganz schön einsam sein, ohne seinen Vater und seine Mutter und ohne Frau und Kinder.«
»Ja. Aber den Europäern macht das nichts aus. Die haben viel Übung im Einsamsein.«
»Er hat einen schön großen, kräftigen Körper.«
»Ja.«
»Einen sehr kräftigen Körper.«
»Ja.«
»Sieh zu, dass du ihm ordentlich zu essen gibst und schön viel Milch.«
»Ja.«
»Büffelmilch.«
»Ja, ja.«
»Und sorg dafür, dass er keine Kraftausdrücke lernt. Bring ihm keine Flüche bei. Es gibt mehr als genug Arschlöcher und Scheißkerle und Wichser, die ihm die falschen Wörter beibringen wollen. Du musst ihn unbedingt von solchen Kerlen fernhalten.«
»Mach ich.«
»Und pass auf, dass ihn keiner ausnutzt. Er sieht nicht besonders schlau aus.«
»Er ist schlauer, als du denkst, aber ich werde trotzdem ein Auge auf ihn haben.«
Es störte keinen der Fahrgäste, dass sie diese Unterhaltung, die mehrere Minuten dauerte, abwarten mussten, bis wir einsteigen konnten und der Bus endlich weiterfuhr. Der Fahrer und Prabaker hatten nämlich, rücksichtsvoll wie sie waren, so laut gesprochen, dass alle Passagiere mithören konnten. Und als wir endlich unterwegs waren, versuchte der Fahrer sogar, die Fußgänger, an denen wir vorbeifuhren, auf seinen besonderen Fahrgast aufmerksam zu machen. Sobald er Passanten sah, die entlang seiner Route die Straße entlanggingen, hupte er, deutete mit dem Daumen nach hinten, um sie auf den Ausländer in seinem Bus hinzuweisen, und fuhr nur noch Schneckentempo, damit die Fußgänger mich ausgiebig beäugen konnten.
Weil der Fahrer seine bemerkenswerte Attraktion brüderlich teilen wollte, dauerte die für gewöhnlich einstündige Fahrt annähernd doppelt so lange, und wir erreichten die staubige Straße zum Dorf Sunder erst am späten Nachmittag. Der Bus knatterte und keuchte davon und ließ uns
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