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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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gewickelten Tuches wirklich zu würdigen.
    Prabaker ließ sein Gepäck fallen und stürmte los. Sein Vater sprang von dem Ochsenjoch herunter, und sie umarmten einander scheu. Das Lächeln des alten Mannes war das einzige Lächeln, das es mit dem von Prabaker aufnehmen konnte. Es war ein unglaublich breites Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht zog, als seien seine Züge mitten in einem Lachanfall erstarrt. Als Prabaker sich nach der Umarmung wieder mir zuwandte, bekam ich die doppelte Dosis dieses riesigen Lächelns verabreicht – das Original und seine noch etwas eindrucksvollere verwandtschaftliche Kopie –, was so überwältigend war, dass ich nur noch hilflos grinsen konnte.
    »Lin, ist das mein Vater, Kishan Mango Kharre. Und Vater, ist das Mr. Lin. Bin ich froh, so sehr froh, dass ihr endlich kennen lernt eure werte gute Selbst.«
    Wir gaben uns die Hand und blickten uns in die Augen. Prabaker und sein Vater hatten das gleiche fast kreisrunde Gesicht und die gleiche Stupsnase. Doch während Prabakers Gesicht arglos, offen und glatt war, durchzogen zahlreiche Runzeln das Gesicht seines Vaters, und wenn er nicht lächelte, senkte sich ein müder Schatten auf seine Augen, als wache er über fest verschlossene Türen in seinem Inneren. Der Mann war traurig, müde und von Sorgen geplagt, doch sein Gesicht strahlte Stolz aus. Ich brauchte lange, bis ich begriff, dass alle Bauern dieser Welt so müde und sorgenvoll, so stolz und dabei so traurig sind – weil sie nur den Boden haben, den sie umgraben und die Saat, die sie aussäen, niemals jedoch die Gewissheit, dass der Boden sie auch ernähren wird. Und ihrer Angst vor Hunger und Unheil können sie viel zu oft nur die stille, vertrauensvolle und herzzerreißende Freude entgegensetzen, die Gott in alles legt, was blüht und wächst.
    »Ist er mein Vater ein großer Erfolgsmann«, sagte Prabaker strahlend vor Stolz, den Arm um die Schultern des alten Mannes gelegt. Da ich nur sehr wenig Marathi sprach und Kishan überhaupt kein Englisch, sagte Prabaker alles in beiden Sprachen. Als Kishan den Satz in seiner Sprache hörte, zog er mit großer, beinahe anmutiger Geste sein Hemd hoch, als wäre das die natürlichste Sache der Welt, und klopfte sich auf den behaarten Wanst. Seine Augen glitzerten, als er mit mir sprach, unablässig den Kopf wiegte und mich mit irritierend aufforderndem Blick ansah.
    »Was hat er gesagt?«
    »Sollst du tatschen sein Bauch«, erklärte Prabaker grinsend.
    Kishan grinste ebenso breit.
    »Lass mal.«
    »Oh doch, Lin. Sollst du tatschen sein Bauch.«
    »Nein.«
    »Will er aber wirklich, dass du tatscht sein Bauch«, beharrte Prabaker.
    »Sag ihm, dass ich mich geehrt fühle, Prabu. Und dass er einen prächtigen Bauch hat. Aber ich verzichte dankend.«
    »Nur kurz tatschen, Lin, ja?«
    »Nein«, sagte ich nachdrücklich.
    Kishans Grinsen wurde noch breiter, und er zog mehrmals ermunternd die Augenbrauen hoch, während er weiterhin sein Hemd festhielt und mir seinen runden, haarigen Bauch präsentierte.
    »Komm, Lin. Nur bisschen. Beißt er dich nicht, der Bauch von mein Vater.«
    Manchmal muss man sich gänzlich hingeben, hatte Karla gesagt, bevor man etwas bekommt. Und sie hatte recht. In Indien ist Hingabe der Schlüssel zum Erleben. Ich gab mich hin. Ich blickte mich kurz um auf dem menschenleeren Weg, dann streckte ich die Hand aus und tätschelte den warmen haarigen Bauch.
    Natürlich teilten sich genau in diesem Moment die hohen grünen Hirsestängel am Wegesrand, und vier dunkelbraune Gesichter tauchten auf. Sie gehörten zu vier jungen Männern, die uns mit weit aufgerissenen Augen staunend anstarrten. In ihrem Blick lagen Angst, Abscheu und Begeisterung zugleich.
    Langsam und so würdevoll wie möglich zog ich meine Hand zurück. Mit hochgezogener Augenbraue und einem süffisanten Lächeln sah Kishan erst mich, dann die anderen an. Er sah aus wie ein Staatsanwalt, der gerade sein Plädoyer abgeschlossen hat.
    »Ich möchte deinem Vater nicht den Spaß verderben, Prabu, aber sollten wir nicht langsam weitergehen?«
    »Challo!«, verkündete Kishan, der ahnte, was ich eben gesagt hatte. Gehen wir!
    Während wir unsere Sachen aufluden und auf den Karren kletterten, nahm Kishan wieder seinen Platz auf dem Ochsenjoch ein. Er hob den Bambusstock, in dessen Ende ein Nagel getrieben war, hieb dem Ochsen mit Macht auf die Flanke, und dann setzten wir uns in Bewegung – zunächst mit einem Ruck, als der Ochse den brutalen Schlag

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