Shantaram
in einer so tiefen Stille zurück, dass sich der leichte Wind an meinem Ohr anhörte wie das Flüstern eines Kindes. Im Laufe der letzten Stunde waren wir an unzähligen Maisfeldern und Bananenbaumhainen vorbeigekommen und stapften nun die unbefestigte Landstraße entlang, zwischen endlosen Reihen von Hirsepflanzen, die fast ausgewachsen und damit schon mehr als mannshoch waren. Ehe wir uns versahen, befanden wir uns in einer Art Labyrinth aus hohen Pflanzenwänden. Der weite Himmel schrumpfte zu einem schmalen blauen Streifen, und der Weg vor uns und hinter uns wirkte wie ein grüngoldenes Band, dem Faltenwurf eines Vorhangs gleich, der sich vor der Bühne des Lebens senkt.
Schon seit einer Weile ließ mir etwas keine Ruhe – das unbestimmte Gefühl, dass mir irgendetwas auffallen müsse. Erst nach etwa einer Stunde fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es gab weit und breit keine Telegrafenmasten. Keine Strommasten. Eine ganze Stunde lang hatte ich keinerlei Hinweise dafür gesehen, dass die Gegend mit Strom versorgt war – nicht einmal ferne Hochspannungsleitungen.
»Gibt es in eurem Dorf Strom?«
»Oh nein«, antwortete Prabaker und grinste.
»Keinen Strom?«
»Nein. Keinen.«
Eine Weile schwiegen wir beide, und im Geiste schaltete ich nach und nach alle Elektrogeräte ab, die ich bisher für unentbehrlich gehalten hatte. Elektrisches Licht. Wasserkocher. Fernseher. Hi-Fi-Anlage. Radio. Musik. Ich hatte nicht mal einen Walkman dabei. Was sollte ich bloß ohne Musik machen?
»Wie soll ich denn ohne Musik auskommen?«, fragte ich. Es war mir klar, dass ich jämmerlich klang, aber ich konnte den weinerlichen Unterton in meiner Stimme nicht unterdrücken.
»Wird es viel Musik geben, Baba«, antwortete Prabaker fröhlich. »Werde ich singen. Werden alle singen. Werden wir singen und singen und singen.«
»Oh. Gut. Dann bin ich ja beruhigt.«
»Und wirst du auch singen, Lin.«
»Lieber nicht, Prabu.«
»Singen alle in unser Dorf«, sagte er mit plötzlichem Ernst.
»Aha.«
»Ja. Alle.«
»Mhm. Für mich gilt aber: alles zu seiner Zeit. Wie weit ist es noch bis zu deinem Dorf?«
»Oh, nur ein klein bisschen und fast gar nicht zu weit. Und weißt du was, haben wir jetzt auch Wasser in unser Dorf.«
»Wie meinst du das, jetzt habt ihr Wasser?«
»Was ich meine, ist, gibt es jetzt ein prima Wasserhahn im Dorf.«
»Einen Wasserhahn. Für das ganze Dorf.«
»Ja. Und kommt das Wasser eine ganze Stunde lang raus, jeder nachmittags um zwei Uhr.«
»Eine ganze Stunde pro Tag …«
»Oh ja. Jedenfalls an viele von die meisten Tage. An manche Tage kommt es nur für eine halbe Stunde. Manchmal kommt es auch gar nicht heraus. Dann müssen wir gehen wieder zu den Brunnen. Schöpfen wir das grüne Zeug ab von Wasser, und schon ist es kein Problem. Ah! Schau! Ist er da mein Vater.«
Auf dem gewundenen überwucherten Weg vor uns näherte sich ein Ochsenkarren. Der riesige, milchkaffeefarbene Zebu war vor einen hohen, korbförmigen Karren mit zwei eisenbeschlagenen Holzrädern gespannt. Die Räder waren schmal, aber hoch und reichten mir bis zur Schulter. Auf dem Halsbogen des Ochsenjochs saß, mit den Beinen baumelnd und ein Bidi rauchend, Prabakers Vater.
Kishan Mango Kharre war noch kleiner als Prabaker und hatte kurz geschorene graue Haare, einen kleinen grauen Schnurrbart und trotz seiner eher zierlichen Gestalt einen stattlichen Kugelbauch. Er trug die Tracht der Bauernkaste: eine Kappe, ein baumwollenes Kurta-Hemd und darunter einen Dhoti, alles in Weiß. Der Dhoti ist eine Art Lendenschurz, doch diese nüchterne Bezeichnung unterschlägt die klare, anmutige Eleganz dieses Kleidungsstücks, das auf mehrere Arten getragen werden kann: Hochgerafft zu einer kurzen Hose ist der Dhoti tauglich für die Feldarbeit, ansonsten trägt man ihn als knöchellange Pluderhose. Er ist immer in Bewegung und passt sich jeder Körperhaltung an, ob man rennt oder sitzt. Um die Mittagszeit fängt er jeden leisen, kühlenden Windhauch auf, doch am frühen Morgen hält er die kühle Luft fern. Der Dhoti ist ein ebenso bescheidenes wie praktisches Kleidungsstück, das den Körper umschmeichelt und ansprechend aussieht. Als Gandhi durch Europa reiste, um sich für Indiens Unabhängigkeit von England einzusetzen, wurde man auch im Westen mit dem Dhoti vertraut. Bei allem Respekt vor Mahatma muss aber gesagt sein: Erst wenn man mit indischen Bauern lebt und arbeitet, lernt man die elegante Schönheit dieses schlichten
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