Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
erst fünfzehn und der älteste seiner Freunde achtzehn, doch die Jungs waren Straßenkämpfer aus einem der härtesten Viertel von Bombay. Einer von ihnen, Raju, ein großer Junge mit hübschem Gesicht und der Schmalztolle eines Bollywood-Filmstars, hatte eine Pistole dabei. Er zeigte sie den Dorfbewohnern, und alle fassten Mut.
    Arrogant und siegessicher zogen die Dacoits eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang in das Dorf ein. Ihr Anführer hatte seine erste brutale Drohung noch nicht vollständig ausgesprochen, als Raju aus seinem Versteck hervortrat und auf die Banditen zumarschierte. Bei jedem dritten Schritt feuerte er. Die verzweifelten Bauern schleuderten mit voller Kraft Äxte, Sicheln, Messer, Stöcke und Steine über die Barrikaden auf die Dacoits. Raju rückte unbeirrt weiter vor und traf mit seiner letzten Kugel den Anführer aus nächster Nähe ins Herz. Der Mann sei bereits tot gewesen, erzählten die Dorfbewohner, bevor er zu Boden sank.
    Die restlichen verwundeten Dacoits stoben davon und wurden nie wieder gesehen. Man brachte die Leiche des Anführers auf die Polizeiwache des Distrikts Jamner. Alle Dorfbewohner erzählten die gleiche Geschichte: Sie hätten sich gegen die Dacoits verteidigt, und im Durcheinander des Kampfes hätten die Banditen einen ihrer eigenen Männer erschossen. Rajus Name wurde gar nicht erst ins Spiel gebracht. Nachdem sie zwei Tage gefeiert hatten, kehrten die jungen Männer mit Prabaker in die Stadt zurück. Der wilde, mutige Raju aber starb zwei Jahre später bei einer Schlägerei in einer Bar. Zwei andere der Jungs kamen unter ähnlich gewalttätigen Umständen ums Leben. Ein Vierter saß eine langjährige Haftstrafe wegen eines Verbrechens aus Leidenschaft ab, in dem die Liebe zu einer Schauspielerin und der Hass eines Rivalen eine tragende Rolle spielten.
    Als ich Marathi lernte, erzählten die Dorfbewohner mir die Geschichte des großen Gefechts viele Male. Sie führten mich sogar an die historischen Orte, zu den Verstecken und den Kampfplätzen der Krieger. Sie spielten die Ereignisse für mich nach, und die jüngeren Männer wetteiferten jedes Mal um die Ehre, Raju spielen zu dürfen. Die Geschichten der jungen Männer aus Bombay, die an der Seite der Dorfbewohner gekämpft hatten, waren fester Bestandteil der großen Heldensaga, und jedes einzelne Schicksal der Großstadthelden – über das Prabaker die Dorfbewohner bei seinen Besuchen auf dem Laufenden hielt – wurde als Bestandteil dieser Heldensaga betrachtet und entsprechend geschildert. Und in allen Versionen und Diskussionen darüber schwang eine innige Zuneigung zu Rukhmabai Kharre mit, ein besonderer Stolz auf sie. Man liebte und bewunderte sie im Dorf, weil sie mit ihrer aufrüttelnden Rede bei der Bestattung so viel bewegt hatte – es war übrigens das erste und letzte Mal gewesen, dass sie sich im Dorf öffentlich für etwas einsetzte. Man würdigte ihren Mut, empfand Hochachtung für ihre Willensstärke. Vor allem aber feierten die Dorfbewohner, dass Rukhmabai durch den Kampf mit den Dacoits aus dem unzugänglichen Land der Trauer und der Verzweiflung zu ihnen zurückgekehrt war. Und dass sie wieder zur selben starken, gewitzten, lachenden Frau wurde, die sie früher gewesen war. Denn der Reichtum dieses armen und einfachen Dorfs waren seine Menschen, das vergaß oder bezweifelte keiner.
    All dies stand in Rukhmabais schönem Gesicht geschrieben. Die Falten unter ihren Augen waren die Dämme, die ihre Tränen zurückhielten, und wenn sie allein oder in ihre Arbeit vertieft war, öffneten sich ihre vollen roten Lippen, um unausgesprochenen Fragen Raum zu lassen, auf die es niemals eine Antwort geben würde. Ihr festes, herausfordernd vorgerecktes Kinn mit dem Grübchen drückte Entschlossenheit aus, und in der Mitte ihrer Stirn, zwischen ihren Brauen, stand immer eine kleine Falte, als halte sie in diesen weichen Hautfalten die grauenhafte und gnadenlose Erkenntnis fest, dass es kein Glück ohne Leid gibt, keinen Reichtum, für den man nicht bezahlen muss, und kein Leben, das nicht früher oder später von Kummer und Tod überschattet wird.
    Meine innige Beziehung zu Rukhmabai begann gleich am ersten Morgen. Ich hatte auf dem Seilbett vor Kishans Haus gut geschlafen – so gut, dass ich noch laut schnarchte, als Rukhmabai kurz nach Tagesanbruch ihre Büffel zum Melken vors Haus trieb. Eines der Tiere fühlte sich von dem kehligen Schnarchgeräusch so angezogen, dass es beschloss, diesem nachzugehen. Ich

Weitere Kostenlose Bücher