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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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starrten sie aber alle nur noch auf den wild wirbelnden, sturzbachartig auf die Erde prasselnden Regenvorhang. In jedem Hauseingang drängten sich Gesichter, und die Blitze am Himmel beleuchteten diese Stillleben des Staunens.
    Dem mehrstündigen Regenguss folgte eine etwa ebenso lange Pause. Zwischendurch kam immer wieder die wärmende Sonne durch, und die Erde dampfte. Die ersten zehn Tage der Regenzeit verliefen nach exakt diesem Muster: heftige Unwetter und dazwischen ruhige, trockene Phasen. Es schien, als würde der Monsun erst die Schwachstellen ausleuchten wollen, ehe er wirklich losschlug.
    Als dann der große Regen kam, ein gewaltiger See in der Luft, regnete es sieben Tage und Nächte fast ununterbrochen. Am siebten Tag stand ich am Ufer des Flusses und wusch meine wenigen Kleider, während es weiter schüttete. Irgendwann griff ich nach dem Waschmittel und stellte fest, dass der Stein, auf dem ich es abgestellt hatte, überschwemmt war. Das Flusswasser, das anfangs nur leicht gegen meine Füße plätscherte, war mir in Sekundenbruchteilen über die Knöchel bis zu den Knien gestiegen. Während ich flussaufwärts in die reißenden, tosenden Fluten schaute, erreichte das Wasser meine Oberschenkel, und es stieg immer weiter.
    Ich war beeindruckt und beunruhigt. Mit nassen Kleidern watete ich mit meinen nassen Kleidern ans Ufer und machte mich auf den Weg zurück ins Dorf. Unterwegs blieb ich zweimal stehen, um zu sehen, wie weit das Wasser gestiegen war. Es hatte bereits die steile Uferböschung überwunden, und die Fluten breiteten sich auf der weiten, leicht abfallenden Fläche dahinter aus. Der angeschwollene, alles verschlingende Fluss stieg so schnell, dass er im Schritttempo auf das Dorf zukroch. Erschrocken rannte ich los, um die Dorfbewohner zu warnen.
    »Der Fluss! Der Fluss kommt!«, brüllte ich in meinem holprigen Marathi.
    Die Dorfbewohner, die meine Besorgnis spürten, mich aber nicht richtig verstanden, scharten sich um mich und riefen dann nach Prabaker, den sie mit Fragen löcherten.
    »Was ist los, Lin? Sind sie ganz aufgeregt die Leute wegen dich.«
    »Der Fluss! Das Wasser steigt unglaublich schnell! Er begräbt das ganze Dorf unter sich!«
    Prabaker lächelte.
    »Oh nein, Lin. Wird das nicht passieren.«
    »Aber wenn ich es dir doch sage! Ich habe es selbst gesehen! Ganz im Ernst, Prabu, der verdammte Fluss überschwemmt noch alles!«
    Prabaker übersetzte meine Worte für die anderen. Alle lachten.
    »Seid ihr denn alle verrückt?«, rief ich verzweifelt. »Da gibt es nichts zu lachen!«
    Sie lachten jetzt noch lauter, tätschelten mich und sprachen beruhigend und mit einem Lachen in den Stimmen auf mich ein. Dann setzte sich Prabaker an ihre Spitze, und die ganze Schar von Dörflern zerrte, schob, trieb mich zum Fluss.
    Er war mittlerweile eine gewaltige Flut, ein reißender, schlammiger Strom mit wilden Wellen und schäumenden Strudeln. Und er war bereits bis auf ein paar hundert Meter an Sunder herangekommen. Der Regen wurde immer heftiger, und unsere Kleider waren durchtränkt von Regenwasser, genau wie der Boden, der unter unserem Gewicht nachzugeben begann. Und der Fluss schwoll noch weiter an und verleibte sich mit jedem unserer pochenden Herzschläge ein weiteres Stück Land ein.
    »Siehst du sie, diese Stöcke, Lin?«, fragte Prabaker und gab sich Mühe, besänftigend zu klingen. »Sind es diese Stöcke für Überschwemmungsspiel. Denkst du daran, wie die Leute sie haben gesteckt in der Boden? Satish und Pandey, Narayan und Bharat … denkst du daran?«
    Ich erinnerte mich tatsächlich. Vor einigen Tagen hatte eine Art Lotterie stattgefunden. Einhundertundzwölf Nummern, ebenso viele wie es männliche Dorfbewohner gab, wurden auf kleine Zettel geschrieben und in einem leeren Wassergefäß aus Ton, matka genannt, gemischt. Die Männer stellten sich der Reihe nach auf, um eine Nummer zu ziehen. Dann wurden weitere einhundertzwölf Zettel, die Zwillinge der ersten, in das Gefäß geschüttet. Ein kleines Mädchen hatte die ehrenvolle Aufgabe, sechs Gewinnnummern zu ziehen. Das ganze Dorf schaute bei dieser Zeremonie zu und klatschte den Siegern fröhlich Beifall.
    Die sechs Hauptpreise bestanden darin, dass die sechs Gewinner jeweils einen etwa ein Meter langen Pflock in die Erde hauen durften, wo sie wollten. Unabhängig von Lotteriegewinnen durften auch die drei ältesten Männer von Sunder jeweils einen Pflock in den Boden rammen. Die Männer wählten sich ihre Wunschstelle

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