Shantaram
durch ihre Körpergröße und ihre üppig gerundete Figur ein wenig amazonenhaft, was jedoch nicht zutraf. Ihr schwarzes Haar, glänzend von Kokosöl, war noch nie geschnitten worden, und der stattliche Zopf reichte ihr bis zu den Knien. Ihre Haut war sonnenbraun, und ihre Augen glichen in rötlichem Gold gefassten Bernsteinen; ihre Augäpfel schimmerten immer leicht rosafarben, als habe sie gerade geweint oder sei kurz davor. Die breite Lücke zwischen ihren Vorderzähnen verlieh ihrem Lächeln etwas Schelmisches, Verschmitztes, und wenn sie ernst war, strahlte die gewaltige Adlernase eine imponierende Autorität aus. Sie hatte dieselbe hohe und breite Stirn wie Prabaker, und ihre bernsteinfarbenen Augen blickten über den Hügeln ihrer markanten Wangenknochen aufmerksam in die Welt. Sie war geistreich und humorvoll und nahm großen Anteil an den Sorgen ihrer Mitmenschen. Aus den Konflikten ihrer Nachbarn hielt sie sich heraus, bis man sie um ihre Meinung bat, dann aber bekam sie meist das letzte Wort. Sie war eine bewundernswerte, begehrenswerte Frau, doch ihre Augen und ihre Haltung sandten eine unmissverständliche Botschaft aus: sie zu beleidigen oder zu missachten war gefährlich.
Kraft ihres Willens und ihres Wesens wahrte sie das Ansehen, das die Familie sich durch Kishans Landbesitz und Rukhmabais Verwaltung des kleinen Vermögens im Dorf erworben hatte. Ihre Ehe mit Kishan war arrangiert gewesen. Als schüchterne Sechzehnjährige hatte sie damals heimlich hinter einem Vorhang gesessen und hindurchgespäht, um ihren Verlobten zu begutachten – es war das erste und einzige Mal, dass sie ihn vor der Hochzeit sah. Als ich ihre Sprache gut genug beherrschte, erzählte sie mir einmal mit entwaffnender Offenheit, wie enttäuscht sie gewesen sei, als sie Kishan das erste Mal zu Gesicht bekam – denn er war klein. Seine durch die harte Feldarbeit gegerbte Haut hatte den Farbton des Bodens, den er bearbeitete, und das bekümmerte sie. Er hatte raue Hände, und seine Sprache war ungehobelt. Seine Kleider waren sauber, aber reizlos. Und er war Analphabet. Ihr Vater war Vorsitzender eines Dorfrates, eines Panchayat, und Rukhmabai konnte lesen und schreiben – sogar beides: Hindi und Marathi. Als sie Kishan damals zum ersten Mal sah, war sie überzeugt, dass sie ihn niemals würde lieben können und dass sie sich unter Wert verheiratete. Ihr Herz pochte diese Geheimnisse so laut heraus, dass sie befürchtete, er könnte alles hören.
Genau in diesem Moment bestürzender Erkenntnis wandte Kishan den Kopf und starrte direkt auf ihr Versteck, auf den Vorhang, hinter dem sie kauerte. Sie war sicher, dass er sie nicht sehen konnte; dennoch blickte er so unverwandt zu ihr herüber, als sehe er ihr in die Augen. Dann lächelte er. Es war das breiteste Lächeln, das sie je gesehen hatte, so strahlend, dass der ganze Raum von seiner unbändigen Fröhlichkeit durchflutet wurde. Sie betrachtete dieses wunderbare Lächeln, und ein eigenartiges Gefühl überkam sie. Als sie sein Lächeln unwillkürlich erwiderte, fühlte sie ein ungekanntes Wohlbehagen und eine vage, heitere Fröhlichkeit in sich. Das ist alles richtig so, sagte die Stimme ihres Herzens. Alles wird gut. Rukhmabai wusste, genau wie ich, als ich Prabaker zum ersten Mal sah, dass jemand, der sein Herz in sein Lächeln legte, einem anderen Menschen niemals Schmerz oder Schaden zufügen könnte.
Als er wieder wegsah, kam es ihr vor, als sei der Raum plötzlich dunkler, und sie verstand, dass sie ihn allein für sein strahlendes, beruhigendes Lächeln bereits zu lieben begonnen hatte. Sie protestierte nicht, als ihr Vater das Ehearrangement bekannt gab, und zwei Monate nachdem Rukhmabai zum ersten Mal Kishans magisches Lächeln erblickt hatte, war sie bereits verheiratet und mit ihrem ersten Sohn schwanger. Mit Prabaker.
Kishans Vater übereignete seinem ältesten Sohn zur Hochzeit zwei fruchtbare Felder, und Rukhmabais Vater ergänzte die Mitgift des jungen Paars um ein drittes Feld. Die junge Frau übernahm vom ersten Tag ihrer Ehe an die Verwaltung des gemeinsamen kleinen Vermögens. Dank ihrer Lese- und Schreibfertigkeiten führte Rukhmabai in einfachen Schulheften, die sie zu Bündeln geschnürt in einer Zinktruhe aufbewahrte, akribisch Buch über Gewinne und Verluste.
Weil sie klug in die Unternehmungen ihrer Nachbarn investierte und ihr Kapital sorgsam verwaltete, hielten sich die Verluste in Grenzen. Als sie mit fünfundzwanzig das dritte Kind auf die Welt
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