Shantaram
doch binnen weniger Minuten driftete ich auf der Dünung ihrer murmelnden Stimmen davon, auf sanften, rhythmischen Wellen unter einem unermesslichen Himmel voll heller, flüsternder Sterne.
Irgendwann legte Prabakers Vater, der links von mir saß, mir die Hand auf die Schulter. Es war eine schlichte Geste, freundlich und tröstend, doch sie berührte mich zutiefst. Ich schlief schon fast, und nun war ich schlagartig wieder hellwach. Erinnerungen suchten mich heim – Gedanken an meine Tochter, meine Eltern und meinen Bruder, Gedanken an die Verbrechen, die ich begangen hatte, und Gedanken an geliebte Menschen, die ich verraten und damit für immer verloren hatte.
Es mag seltsam scheinen und für andere Menschen vielleicht sogar gänzlich unverständlich sein, aber bis zu diesem Augenblick war mir das Ausmaß des Unrechts, das ich begangen, und die Bedeutung des Lebens, das ich verloren hatte, nicht bewusst. Als ich die bewaffneten Raubüberfälle beging, war ich heroinabhängig und stand unter Drogen. Ein Opiatnebel hatte sich damals über alles gelegt, was ich tat oder dachte, sogar über meine Erinnerungen. Danach, während des Gerichtsprozesses und meiner dreijährigen Haft, war ich clean und klar im Kopf und hätte eigentlich erkennen müssen, was meine Verbrechen und meine Strafe bedeuteten – für mich und meine Familie und für die Leute, die ich mit vorgehaltener Pistole beraubt hatte. Doch ich war zu sehr damit beschäftigt, bestraft zu werden und mich bestraft zu fühlen, um mit dem Herzen begreifen zu können. Selbst als ich aus dem Gefängnis ausgebrochen und auf der Flucht war, ein Gesuchter, der sich verstecken musste, ein Gejagter, auf dessen Kopf eine Belohnung ausgesetzt war, selbst da hatte ich kein klares, umfassendes Verständnis der Taten und ihrer Konsequenzen, die meine neue, bittere Lebensgeschichte ausmachten.
Erst dort in dem indischen Dorf, an jenem ersten Abend, getragen von der Dünung der murmelnden Stimmen, mit Sternen in den Augen; erst damals, als der Vater eines anderen Mannes tröstend seine raue, schwielige Bauernhand auf meine Schulter legte; erst dort und damals begriff und spürte ich mit quälender Klarheit, was ich getan hatte und was aus mir geworden war – spürte den Schmerz, die Angst und die Vergeudung, diese dumme, unverzeihliche Vergeudung. Mein Herz brach vor Scham und Traurigkeit. Auf einmal erkannte ich, wie viele Tränen ich in mir hatte und wie wenig Liebe. Ich erkannte endlich, wie einsam ich war.
Doch ich konnte mit dieser Erkenntnis und diesen Gefühlen nicht umgehen. Meine Kultur hatte mich ausschließlich Dinge gelehrt, die jetzt und hier unbrauchbar waren. Also lag ich stocksteif da und zeigte keinerlei Regung. Doch die Seele gehört keiner Kultur an. Die Seele gehört keiner Nation an. Die Seele hat keine Farbe und auch keine Klangfarbe. Sie hat nicht einmal eine eigene Lebensweise. Die Seele ist ewig. Die Seele ist eins. Und wenn sich Wahrheit und Traurigkeit über ein Herz legen, überkommt die Seele ein großes Verlangen.
Ich biss im Angesicht der Sterne die Zähne zusammen. Ich schloss die Augen, ergab mich dem Schlaf. Wir sehnen uns so sehr nach der Liebe und suchen deshalb so verzweifelt nach ihr, weil die Liebe das einzige Heilmittel ist gegen Einsamkeit, Scham und Traurigkeit. Manche Gefühle versinken aber so tief in unserem Herzen, dass wir sie nur mithilfe der Einsamkeit wiederfinden können. Manche Wahrheiten über uns sind so schmerzhaft, dass wir sie nur mit Scham überleben. Und manche Dinge sind so traurig, dass nur unsere Seele für uns weinen kann.
S ECHSTES K APITEL
P rabakers Vater machte mich mit dem Dorf Sunder bekannt, doch es war seine Mutter, die mir das Gefühl gab, hier zu Hause zu sein. Ihr Leben mit all seinen Triumphen und Kümmernissen umhüllte das meine mit derselben Leichtigkeit, mit der sie ihr rotes Schultertuch um ein weinendes Kind legte, das an ihrer Haustür vorbeikam. Ihre Geschichte, die ich im Laufe der nächsten Monate von so vielen Stimmen erzählt bekam, wurde zur Geschichte aller, selbst zu meiner eigenen. Und ihre Liebe – ihre Bereitschaft, die Aufrichtigkeit meines Herzens zu ergründen und mich zu lieben – veränderte mein Leben.
Als ich ihr das erste Mal begegnete, war Rukhmabai Kharre vierzig Jahre alt; nie hatte sie mehr Energie gehabt und nie war ihr Ansehen im Dorf höher gewesen. Sie war gut anderthalb Köpfe größer als ihr Mann, und wenn die beiden nebeneinander standen, wirkte sie
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