Shantaram
wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen, weil ich etwas Nasses auf meinem Gesicht spürte und das Gefühl hatte, ich würde gleich ersticken. Als ich die Augen aufschlug, erblickte ich die riesige rosafarbene Zunge eines gigantischen schwarzen Wasserbüffels, die sich gerade erneut auf mein Gesicht niedersenkte. Ich stieß einen erschrockenen, ängstlichen Schrei aus, fiel aus dem Bett und ergriff, rückwärts auf Händen und Fersen krabbelnd, die Flucht.
Alle lachten mich aus – Rukhmabai am lautesten –, doch das Gelächter war ehrlich und freundlich, ohne Häme. Als sie mir die Hand reichte, ließ ich mir aufhelfen und lachte mit.
»Gaee!«, sagte sie, auf den Wasserbüffel deutend, und stellte damit unmissverständlich klar, dass ich derjenige sein müsste, der eine Fremdsprache lernte, wenn wir uns künftig verständigen wollten. Wasserbüffel!
Sie nahm ein Glas und ging in die Hocke, um das riesige schwarze Tier mit den gebogenen Hörnern zu melken. Ich sah zu, wie sie die Milch mit geübten Ziehbewegungen direkt in das Glas spritzen ließ. Als es voll war, wischte sie den Rand mit dem Zipfel ihres roten Baumwolltuchs sauber.
Ich bin ein Großstadtkind – meine Heimatstadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, hat drei Millionen Einwohner. In Großstädten bewege ich mich wie ein Fisch im Wasser; wahrscheinlich konnte ich deshalb jahrelang auf der Flucht sein. Das Großstadtkind in mir fühlte Angst und Argwohn vor allem Ländlichen in sich aufkeimen, als es das Glas frisch gemolkener Milch in der Hand hielt. Die Milch war warm. Sie roch nach Kuh. Irgendwelches Zeug schien darin herumzuschwimmen. Ich zögerte. Mir war, als stünde Louis Pasteur direkt hinter mir und schaue in das Glas. Ich konnte ihn förmlich hören. Äh, Monsieur – an Ihrer Stelle würde ich diese Milch erst abkochen …
Ich schluckte alles auf einmal hinunter, so schnell es ging, meine Vorurteile, meine Angst und die Milch. Sie schmeckte besser als erwartet, sahnig und reichhaltig, mit einem Hauch von Heu in der Kopfnote. Rukhmabai riss mir das Glas aus der Hand, um es ein zweites Mal zu füllen, doch mein eindringlicher, flehender Protest überzeugte sie schließlich davon, dass ich mit einem Glas vollauf zufrieden war.
Nachdem wir unsere Morgentoilette beendet hatten, die aus Gesichtwaschen und Zähneputzen bestand, nahmen Prabaker und ich unter Rukhmabais Aufsicht ein kräftiges, aus Roti und Chai bestehendes Frühstück zu uns. Die Rotis, ungesäuerte Weizenfladen, wurden mit wenig Öl in einem Wok über dem offenen Feuer zum Frühstück frisch zubereitet. Auf das heiße, pfannkuchenartige Brot gibt man Ghee – geklärte Butter – und einen großen Löffel Zucker. Dann wird es zusammengerollt, worauf man es gerade noch mit einer Hand umfassen kann, und zu einem Becher heißem, süßem Tee verspeist.
Rukhmabai beobachtete jeden unserer Bissen, jede unserer Kaubewegungen, und sobald einer von uns auch nur den Anschein machte, eine Pause einzulegen, etwa um Luft zu holen, bohrte sie uns den Zeigefinger in den Rücken oder verteilte Klapse auf Kopf oder Schulter. Wir saßen in der Falle, und ab dem dritten oder vierten zugegebenermaßen köstlichen Roti blickten wir immer wieder verstohlen und natürlich eifrig kauend zu den jungen Frauen am Wok hinüber, in der Hoffnung, der nächste Roti möge der letzte sein.
Und so begann jeder Tag der nächsten, der vielen Wochen im Dorf mit einem Glas Büffelmilch, einer kurzen Katzenwäsche und einem langen Chai-Roti-Frühstück. Meistens ging ich danach mit den Männern aufs Feld, wo sie Mais, Weizen, Hülsenfrüchte und Baumwolle anbauten. Der Arbeitstag dauerte zweimal drei Stunden, mit einer Mittagspause zum Essen und Ruhen dazwischen. Kinder und junge Frauen schleppten das Essen in unzähligen Edelstahlschüsseln zu uns aufs Feld: Roti, das nie fehlen durfte, scharf gewürztes Dhal, Mango-Chutney und rohe Zwiebeln. Dazu gab es Limonensaft. Nachdem die Männer zusammen gegessen hatten, suchte sich jeder ein ruhiges, schattiges Plätzchen, wo er eine gute Stunde döste. Wenn sie dann die Arbeit wieder aufnahmen, satt und ausgeruht, arbeiteten sie eifrig und tatkräftig weiter, so lange, bis der älteste Arbeiter das Ende des Arbeitstages ausrief. Dann versammelten sie sich auf einem der Trampelpfade zum Dorf und gingen gemeinsam nach Hause. Scherzend, lachend und entlang der von ihnen besäten und bestellten Felder.
Im Dorf selbst gab es für die Männer wenig zu tun. Das Kochen,
Weitere Kostenlose Bücher