Shantaram
erster Impuls war gewesen, zur Seite zu treten und Karla zu schützen, während mein erster Gedanke dem Kampf galt.
Wäre der Schwertkämpfer nicht rechtzeitig zu Fall gebracht worden, hätte ich gegen ihn gekämpft. Und wahrscheinlich hätte ich uns das Leben gerettet, denn ich hatte Übung. Ich hatte schon zu oft gekämpft – mit den Fäusten, einem Messer, einem Knüppel – und gesiegt. Doch selbst wenn es dazu gekommen wäre – Prabakers tapferer, instinktiver Schritt zur Seite hätte ihn zum wahren Helden gemacht.
Ich hatte Prabaker gern. Mittlerweile bewunderte ich seinen unerschütterlichen Optimismus und wollte die wohltuende Wärme seines wunderbaren Lächelns nicht mehr missen. Und ich war immer gern mit ihm zusammen gewesen, Tag und Nacht, all die Monate in der Stadt und im Dorf. Doch in diesem Moment, an meinem zweiten Abend im Slum, als ich ihn mit Jeetendra, Johnny Cigar und seinen anderen Freunden lachen sah, begann ich ihn zu lieben.
Das Essen war gut, und es war genug für alle da. Irgendwo lief Radiomusik. Ein Duett aus einem Bollywood-Film, ein fast unerträglich süßlicher Sopran und ein fröhlich schmetternder Tenor. Die Leute unterhielten sich, gaben einander Halt und Kraft durch ihr Lächeln und ihr Beisammensein. Und irgendwann im Laufe dieses Liebeslieds, irgendwo in der Landschaft all dieser beruhigenden Gesten, irgendwie durch die schlichte Tatsache, dass wir überlebt hatten, nahm die Welt der Slumbewohner mit all ihren Träumen mein Leben in sich auf, so sanft und vollständig, wie sich das Wasser eines angeschwollenen Flusses über einen Stein am Ufer schließt.
Z WEITER T EIL
N EUNTES K APITEL
I ch bin, wie man so schön sagt, am helllichten Tag aus dem Gefängnis ausgebrochen, und zwar um ein Uhr mittags, über die Frontmauer zwischen zwei Wachtürmen. Wir hatten einen minutiösen Plan, den wir auch weitgehend umsetzen konnten, doch letztendlich gelang uns die Flucht, weil wir verwegen und verzweifelt waren. Wir waren uns einig, dass nichts schiefgehen durfte. Falls der Plan missglückte, mussten wir damit rechnen, dass die Wärter im Straftrakt uns zu Tode treten würden.
Wir waren zu zweit. Mein Freund war ein wilder und in den Tiefen seines Herzens grundguter Fünfundzwanzigjähriger, der wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt war. Wir versuchten, noch weitere Männer zu überreden, mit uns zu fliehen. Wir fragten acht der härtesten Typen, die wegen Gewalttaten zu zehn oder mehr Jahren verurteilt waren. Aber jeder brachte irgendeine Ausrede an, warum er nicht mitmachen wollte. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Mein Freund und ich waren junge Ersttäter ohne kriminelle Vorgeschichte. Wir hatten zwar lange Haftstrafen bekommen, aber keinen Namen in der Gefängniswelt. Mit der Flucht, die wir planten, würden wir als Helden gelten, wenn sie uns gelang, und als Volltrottel, wenn wir scheiterten. So blieben schließlich nur wir beide übrig.
Wir nutzten die Tatsache, dass das Gebäude für die Sicherheitskräfte, ein zweistöckiger Bau mit Büro- und Vernehmungsräumen, nicht weit vom Haupteingang entfernt, komplett renoviert wurde. Weil wir als Gärtner arbeiteten, sahen uns die Wachleute, die in diesem Bereich Dienst hatten, jeden Tag. Auch am Tag unserer Flucht beobachteten sie uns erst eine Weile beim Arbeiten und wandten sich dann ab. Wenn die Handwerker Mittagspause machten, stand das Gebäude der Sicherheitskräfte komplett leer. Und die kurzen Momente, in denen die Wachmänner uns nicht beachteten, weil unser Anblick ihnen so vertraut war, nutzten wir aus.
Wir schnitten ein Loch in den Maschendrahtzaun, der die Baustelle umgab, krochen hindurch, brachen eine Tür des menschenleeren Gebäudes auf und liefen nach oben. Das Haus war bereits entkernt, und die vom Putz befreiten Wände gaben den Blick auf Pfosten und tragende Balken frei. Die Holztreppe war mit weißem Staub bedeckt und mit Backstein- und Putzstücken übersät. In der Decke des oberen Stockwerks befand sich eine Luke. Ich stellte mich auf die kräftigen Schultern meines Freundes, drückte die Tür der Luke auf und kletterte hindurch. Unter meinem Overall hatte ich ein Verlängerungskabel um den Körper geschlungen. Ich wickelte es ab, befestigte das eine Ende an einem Dachbalken und ließ das andere Ende zu meinem Freund hinunter, damit er hochklettern konnte.
Das Dach war mit Trapezblech gedeckt und stieß direkt an die Außenmauer des Gefängnisses. Wir wollten das Dach in einer der
Weitere Kostenlose Bücher