Shaos Todeswelt
dann wusste sie Bescheid.
Es war keine Lampe, aber das Viereck gab trotzdem einen blassen Schein ab, weil es von innen her leuchtete.
Shao sah auch, wovor sie stand. Vor einem Spiegel!
***
Im ersten Moment kam sie mit dieser Neuerung nicht zurecht. Alles hätte sie hier unten erwartet, nur keinen Spiegel. Wieder dachte sie an die Quelle des Lebens und überlegte, ob Amaterasu diesen Spiegel damit gemeint haben könnte.
Möglich war es schon. Oft genug wurden Botschaften verschlüsselt weitergegeben, und auch mit Spiegeln hatte es manchmal eine besondere Bewandtnis.
Nicht nur, dass sie oft genug in der Literatur, auf der Bühne und auch im Film eine Rolle gespielt hatten, manche Spiegel waren auch die geheimnisvollen und versteckten Zugänge zu anderen Welten oder Dimensionen. Das wusste Shao aus eigener Erfahrung.
Aber warum hatte Amaterasu von der Quelle des Lebens gesprochen? Hatte sie wirklich kein Wasser damit gemeint, sondern war einzig und allein auf den Spiegel fixiert gewesen?
Durch das innere Licht war es Shao möglich, ihn sich genauer anzuschauen. Ihr fiel auf, dass sie sich selbst nicht in der Oberfläche sah, wie es hätte sein müssen. Außerdem war die Oberfläche nicht glatt. Sie verlief in kleinen Querwellen, eingefroren, erstarrt, und sie gaben das Bild des Menschen auch nicht zurück, sondern saugten es auf.
Der Spiegel stand mit seiner Unterseite auf dem Boden. Er war etwas nach hinten gekippt. Durch diese Winkelhaltung war es Shao möglich, sich vom Kopf bis zu den Füßen zu betrachten, allerdings nur als schwachen Umriss. Als hätte ihr der Spiegel die Seele aus dem Körper geraubt, um sie in seiner Fläche wiederzugeben.
»Komisch«, flüsterte sie. »Tatsächlich wie erstarrtes Wasser. Wie eine Quelle. Die Quelle des Lebens…?«
Shao wollte nicht noch weiter herumrätseln, sondern es auf einen Versuch ankommen lassen.
Bisher hatte sie sich nicht getraut, die Fläche zu berühren. Sie rechnete mit bestimmten Reaktionen, denen sie nichts entgegensetzen konnte, denn Gefahren waren bei diesen ungewöhnlichen Dingen immer vorhanden.
Auf der anderen Seite musste sie etwas unternehmen. Und deshalb überwand sie den inneren Schweinehund und die Angst.
Sie fasste ihn an.
Nein, sie fasste ihn nicht an.
Es gab keinen Widerstand.
Die Fläche gab nach.
Sie war nicht mal weich, sie war eher nicht vorhanden, aber hinter oder in ihr spürte Shao eine Kälte wie eisiges Wasser.
Und dann wurde alles anders. Die andere Kraft packte voll zu und zerrte ihre Füße in die Höhe. Der Kontakt mit dem Boden war einfach weg, und Shao spürte auch, wie sie kippte.
Sie fiel der Spiegelfläche entgegen, streckte dabei auch die andere Hand aus, die ebenfalls keinen Widerstand mehr fand. Ein gewaltiger Sog umklammerte die Chinesin ähnlich wie der, der sie in den Computer hineingezerrt hatte.
Shao konnte nichts tun. Diesmal hatten andere Kräfte die Kontrolle übernommen…
***
Glenda Perkins hatte erst nicht hinschauen wollen. Zuviel war geschehen. Dann aber hatte sie sich dazu gezwungen, wieder auf den Monitor zu schauen, und es polterte ihr ein großer Stein vom Herzen, als sie verfolgte, wie Shao sich durch die fremde Welt kämpfte und dabei auch die gefährliche Brücke überwand.
Ja, sie schaffte es.
Glenda wischte das Wasser aus ihren Augen. Sie kam sich vor wie auf einer heißen Herdplatte hockend. Die Spannung war schon unerträglich geworden. Der Druck lag hinter ihren Augen. Sie konnte nichts tun, aber sie drückte der Freundin die Daumen.
Das Bild auf dem Schirm änderte sich. Eine neue Welt. Shao als Mittelpunkt.
Sie erkundete die Welt und gelangte an die alten Ruinen, wo sie dann die Öffnung in der Mauer sah und sich hindurchdrückte.
»Tu das nicht!« flüsterte Glenda, obwohl Shao sie nicht hören konnte.
Die Chinesin ging weiter.
Stieg in die Dunkelheit. War für den Spieler oder Beobachter nur mehr als Schatten zu sehen, der sich behutsam vorbelegte.
Die Treppe hatte ein Ende. Vor der letzten Stufe blieb Shao stehen. Dann beobachtete Glenda, wie sich ihre Freundin auf den hellen Fleck zubewegte. Er wurde größer, und Glenda glaubte sogar, in ihm einen Spiegel zu erkennen.
War das eine Chance?
Die Spannung nahm zu. Glenda hielt es kaum noch auf ihrem Stuhl aus. Sie wollte auch nicht aufstehen und durch das Zimmer wandern. Möglicherweise verpasste sie etwas Wichtiges.
Das Wichtige unternahm Shao, als sie ihren rechten Arm dem Spiegel
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