Shardik
keiner da, der es sehen, und keiner, der es erfahren würde. Es war ein Akt der Hingabe, noch ehrlicher zwischen ihm und Shardik, als er ihn je in Ortelga oder im Hause des Königs in Bekla vollzogen hatte. »Nimm mein Leben hin, mein Herr Shardik«, betete er lautlos. »Nimm mein Leben, denn es ist dein.« Dann plötzlich fiel ihm etwas ein: »Wie wäre es, wenn jetzt die große Enthüllung käme, die ich in Bekla so lange suchte, unseres Herrn Shardiks Enthüllung der Wahrheit?« Mochte es nicht jetzt dazu kommen, da er und Shardik allein waren, wie nie mehr seit jenem Tag, als er hilflos vor dem Leoparden gelegen hatte?
Wie aber sollte er das Geheimnis erkennen, und was sollte er erwarten? Wie würde es kundgetan werden – als Inspiration für seinen Geist oder durch ein äußeres Zeichen? Und würde er dann sterben oder verschont werden, um es der Menschheit mitzuteilen? Wenn der Preis dafür sein Leben wäre, dachte er – es sollte ihm recht sein.
Der mächtige Kopf wurde gesenkt, schnüffelte an ihm, die Brise war unterbrochen, die Luft still wie unter einer windgeschützten Hausmauer. »Laß mich sterben, wenn es denn sein muß«, betete er. »Laß mich sterben – der Schmerz ist nichts – ich werde hinaustreten in alles Wissen, in alle Wahrheit.«
Dann entfernte sich Shardik. Verzweifelt betete Kelderek weiter: »Ein Zeichen, Shardik, mein Herr – o mein Herr, laß dich wenigstens herab zu einem Zeichen, einer Andeutung deiner heiligen Wahrheit!« Der leise knurrende Atem verstummte, bevor noch der Boden aufhörte, unter dem Schritt des Bären zu zittern. Als er dann, noch halb versunken in seiner Trance, in Anbetung und Gebet lag, drang das Weinen eines Kindes an sein Ohr.
Er erhob sich. Unweit von ihm stand ein vielleicht sieben oder acht Jahre alter Knabe, offensichtlich verirrt und außer sich vor Angst. Vielleicht war er bei den Männern gewesen, bevor sie vor Shardik davonliefen und ihn verließen – mochte er sich retten, so gut er konnte. Kelderek, nach Abflauen seines ekstatischen Anfalls zitternd und verwirrt, stolperte auf den Knaben zu. Er beugte sich nieder, legte den Arm um die Schultern des Kindes und wies auf die Fackeln rund um die Viehgehege. Der Knabe konnte vor Weinen kaum sprechen, aber schließlich verstand Kelderek die Worte: »Das Teufelsgeschöpf!«
»Es ist fort – fort«, sagte Kelderek. »Komm doch, hab keine Angst, du bist in Sicherheit! Lauf heim, so schnell du kannst! Das ist der Weg, dort drüben!«
Dann machte er sich, wie einer, der seine schwere Last wieder aufnimmt, auf den Weg, um Shardik auf seinem nächtlichen Marsch durch die Ebene zu folgen.
Der Bär ging weiter nach Norden – nach Norden und ein wenig westlich, wie Kelderek an den Sternen erkennen konnte. Die wanderten die ganze Nacht über den Himmel, aber nichts anderes regte oder änderte sich in der Einsamkeit. Da war nur das Licht, ein ständiger Wind, das Trip-trip der trockenen Halme an seinen Knöcheln und da und dort ein leicht schimmernder Teich, bei dem er hinkniete, um zu trinken. Beim ersten Licht, das am Himmel emporkroch, so allmählich und unbeirrt, wie sich Krankheit in den Körper schleicht, war er müde bis zur Erschöpfung. Als er einen langsam fließenden Bach durchquerte und merkte, daß seine Füße auf glatte, ebene Steine traten, durchdrang die Bedeutung nicht gleich seine Ermüdung. Er blieb stehen und sah sich um. Die Reihen der flachen Steine zogen sich rechts und links von ihm fort. Er hatte soeben die Wasserleitung durchwatet, die von dem Stausee in Kabin nach Bekla führte, und stand nun auf der gepflasterten Straße zum Gelter Vorgebirge.
Trotz der frühen Morgenstunde blickte er in die Ferne mit der schwachen Hoffnung, einen Reisenden zu sehen – einen Händler vielleicht, der zum Karawanenmarkt und zu Fleitils Waage zöge, einen Armeelieferanten aus einer Provinz oder einen aus dem Land jenseits von Gelt zurückkehrenden ortelganischen Boten – irgend jemanden, der eine Nachricht nach Bekla bringen würde. Aber es war in beiden Richtungen niemand zu sehen, auch keine Hütte und kein Rauch vom fernen Lagerfeuer eines Wanderers. Er wußte, daß die Straße vielfach durch belebtes Land führte; war er vielleicht in der Nähe eines der Lagerplätze für Viehtreiber und Karawanen – ein paar Hütten, ein Brunnen und ein verfallener Unterstand für Vieh? Nein, er sah nichts dergleichen. Es war Pech, zu dieser Stunde und an einer so einsamen Stelle die Straße zu kreuzen.
Weitere Kostenlose Bücher