Shardik
liefen über den Weg. Der Älteste erhob sich, da stürzte ein Mann herein.
»Eine Bestie, Herr! So etwas hat man noch nie gesehen – eine gigantische Bestie, die aufrecht steht – dreimal so hoch wie ein Mann – es hat die Stangen der großen Viehhürde wie Stäbchen zerschlagen – das Vieh ist toll geworden – auf die Ebene hinaus in panischer Flucht! O Herr, der Teufel – der Teufel ist über uns!«
Wortlos und ohne zu zögern ging der Dorfälteste an ihm vorbei und durch die Tür hinaus. Kelderek hörte, wie er seine Leute beim Namen rief, seine Stimme wurde leiser, da er sich zu den Viehhürden am Dorfrand begab.
34. Die Streels in Urtah
Aus der dunklen Ebene hinter dem Dorf beobachtete Kelderek den Tumult, wie ein Mann in einem Baum einen Kampf von oben aus betrachtet. Das Beispiel des Dorfältesten hatte wenig Wirkung auf seine Bauern, und es war keine gemeinsame Aktion gegen Shardik organisiert worden. Manche hatten ihre Türen verrammelt und beabsichtigten offensichtlich nicht herauszukommen. Andere waren ausgezogen – oder hatten zumindest laut verkündet, sie würden ausziehen –, um möglichst viel von dem verfluchten Vieh bei Mondschein zurückzuholen. Eine Männergruppe mit Fackeln stand in der Dorfmitte rund um den Brunnen und quasselte, machte aber keine Miene, sich zu entfernen. Ein paar Männer hatten den Ältesten zu den Gehegen begleitet und bemühten sich, die Stangen zu reparieren und das zurückgebliebene Vieh am Durchbrechen der Gehege zu hindern. Ein- oder zweimal hatte Kelderek, als er am Dorfrand umherwanderte, kurz den gewaltigen Umriß Shardiks im flackernden Fackellicht gesehen. Offensichtlich fürchtete sich das Tier kaum vor diesen Flammen, so ähnlich denen, an die er sich in seiner langen Gefangenschaft gewöhnt hatte. Ein Angriff der Dorfbewohner auf ihn erschien durchaus unwahrscheinlich.
Als schließlich der Halbmond hinter den Wolken auftauchte und ihm weniger Sicht auf Entfernung gewährte, als daß er ihm die Weite der nebligen Ebene wieder ins Bewußtsein rief, merkte Kelderek, daß Shardik fort war. Er zog Kavass’ Kurzschwert und hinkte bis zu einem leeren, zertrümmerten Gehege, bei dem er das Tier fand, das der Bär zerrissen hatte, und dann ein zitterndes, verlassenes Kalb, das sich mit einem Fuß in einem zersplitterten Pfosten verfangen hatte. In der letzten Stunde war dieses hilflose Geschöpfchen Shardik näher gewesen als irgendein anderes Lebewesen, Mensch oder Tier. Kelderek befreite den Huf, trug das Kalb zum nächsten Gehege und setzte es in der Nähe eines Mannes auf den Boden, der ihm, auf das Geländer gestützt, den Rücken zuwandte. Niemand nahm von ihm Notiz, und er stand eine Weile mit einem Arm um das Kalb, das ihm die Hand leckte, als er ihm auf die Beine half. Dann lief es fort, und auch Kelderek verließ das Gehege.
In einiger Entfernung erschollen wirre Rufe, er ging auf die Leute zu. Wo es Angst und Lärm gab, würde wahrscheinlich Shardik nicht weit sein. Bald liefen drei oder vier Männer an ihm vorbei zurück zum Dorf. Einer wimmerte vor Angst, und keiner blieb stehen oder sprach mit ihm. Kaum waren sie fort, erblickte er im Mondschein Shardiks dunklen, zottigen Pelz. Vielleicht hatte er sie verfolgt – möglicherweise hatten sie ihn überrascht –, aber Kelderek, der Shardiks Stimmung und Gemüt aus langjähriger Vertrautheit kannte, wußte, ohne sagen zu können, woher, daß der Bär von diesen Bauern nicht in Zorn versetzt, sondern eher aufgeschreckt worden war. Trotz der Gefahr lehnte sich sein Stolz dagegen auf, sich ihrer Flucht anzuschließen. War er nicht der Herr von Bekla, Gottes Auge, der Priesterkönig Shardiks? Als der Bär im schwachen Mondlicht sich deutlicher abzuzeichnen begann, legte sich Kelderek mit geschlossenen Augen, den Kopf in den Armen verborgen, der Länge nach auf den Bauch und wartete.
Shardik kam über ihn wie ein Ochsengespann über einen auf der Straße schlafenden Hund. Eine Tatze berührte ihn; er spürte die Klauen und hörte sie klappern. Er spürte den feuchten Atem des Bären auf Nacken und Schultern. Wieder empfand er, wie einst, gehobene Stimmung und schreckliche Angst, eine schwindelnde Erregung wie jemand, der auf einer Bergspitze über einem gewaltigen Absturz balanciert. Das war das Mysterium des Priesterkönigs. Nicht Zelda, nicht Ged-la-Dan, auch nicht Elleroth, der Statthalter von Sarkid, hätten dort liegen und ihr Leben Shardiks Gewalt überlassen können. Aber nun war
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