Shardik
Pech – oder war es Shardiks Schlauheit, daß er sich von der Straße ferngehalten hatte, bis er wußte, daß er sie ungesehen überschreiten konnte? Schon war er ein Stück weiter und bestieg den gegenüberliegenden Hang. Bald würde er den Kamm überschreiten und außer Sicht sein. Dennoch zögerte Kelderek, humpelte und lugte enttäuscht und unzufrieden dahin und dorthin. Obwohl er erkannt hatte, daß er, sogar wenn in diesem Augenblick jemand in der Ferne auftauchte, nicht hoffen könnte, mit ihm zu sprechen und die Spur des Bären wiederzufinden, blieb er noch lange auf der Straße, als spürte er irgendwie, daß er nie wieder dieses große Werk des Reiches sehen würde, das er erobert und beherrscht hatte. Endlich brach er mit einem langen, seufzenden Stöhnen wie einer, der sich vergeblich nach Hilfe umgesehen hat und nicht weiß, was ihm nun zustoßen wird, zu der Stelle auf, wo Shardik über den Kamm verschwunden war.
Nachdem er mühselig zu einem weiteren Kamm hinaufgehinkt war, stand er eine Stunde später fast drei Kilometer weiter nordwestlich und blickte auf ein auffallend abwechslungsreiches Land hinunter. Das war keine einsame Ebene mit spärlichen Weideplätzen, sondern eine große natürliche, gepflegte und frequentierte Anlage. Runde Hügelchen in der Ferne bezeichneten ihren jenseitigen Rand, und dazwischen lag ein mehrere Kilometer breites, fruchtbares grünes Tal. Das war, wie er erkannte, eine riesige Wiese oder ein Weideplatz, auf dem in einiger Entfernung voneinander schon bei Sonnenaufgang drei oder vier Herden weideten. Er sah zwei Dörfer, und am Horizont ließen Rauchsäulen darauf schließen, daß es noch andere gab, die ihren Unterhalt aus dieser grünenden Landschaft zogen.
Unweit von ihm, in einer Mulde, war der Boden auf höchst merkwürdige Weise aufgebrochen – eigentlich gespalten –, so daß er ihn verwundert anstarrte, wie man eine steile Klippe oder Wasserfälle anstarren mag oder auch vielleicht einen Felsen, dem der Zufall und jahrhundertelanger Wettereinfluß eine unheimliche Ähnlichkeit, etwa mit einem hockenden Tier oder einem Schädel, verliehen hat. Es war, als hätte vor undenklichen Zeiten ein Riese die Oberfläche der Ebene mit den Zinken einer Gabel aufgeritzt und -gekratzt. Drei ungefähr parallele, fast gleich lange Spalten oder Rinnen verliefen nebeneinander auf einem etwa drei Viertel Kilometer breiten Raum. Diese seltsamen Schluchten waren so schroff und eng, daß in jeder die Äste der Bäume von den beiden abschüssigen Hängen einander beinahe berührten und die Öffnung verschlossen. Der derart überdachte Boden der Schlucht konnte nicht eingesehen werden. Die Strahlen der hinter dem Kamm stehenden Sonne verstärkten die Schatten, die, wie er meinte, dauernd über diesen gleichsam unterirdischen Baumgruppen liegen mußten. An den Rändern wuchs überall das Gras höher, und es schien aus keiner Richtung ein Pfad hinzuführen. Während er dort stand und hinblickte, wurde die Brise vorübergehend steifer, die Wolkenschatten glitten in langgezogenen Wellen über die Ebene, und die Blätter der obersten Äste in den Schluchten, die kaum über das sie umgebende Gras hinausragten, wurden kurz geschüttelt, dann waren sie wieder still.
Darauf erschauerte Kelderek, in der schlimmen Ahnung einer Bedrohung, die er nicht definieren konnte. Es war, als wäre etwas – ein diese Plätze bewohnender Geist – erwacht, hätte ihn beobachtet und sich dabei erregt. Doch es war nichts zu sehen – außer, tatsächlich, Shardiks mächtiger Gestalt, die der nahegelegensten der drei Schluchten zustrebte. Er trottete langsam durch das hohe Gras, blieb am Rand stehen, wandte den Kopf von einer Seite zur anderen und blickte hinunter. Dann glitt er gewandt wie ein Otter über den Rand eines Flußufers in den Abgrund und war verschwunden.
Nun würde er schlafen, dachte Kelderek; seit seiner Flucht war ein Tag und eine Nacht vergangen, und sogar Shardik konnte nicht von Bekla bis zu den Gelter Bergen wandern, ohne sich auszuruhen. Wenn die Ebene die geringste Deckung oder Zuflucht geboten hätte, hätte er zweifellos schon früher Rast gemacht. Shardik, einem Geschöpf der Hügel und Wälder, mußte die Ebene gewiß als eine üble Gegend und seine neugewonnene Freiheit so unbequem erscheinen wie die Gefangenschaft, aus der er entkommen war. Die Schluchten waren sichtlich einsam, wurden vielleicht sogar von den Hirten gemieden, denn für Vieh waren sie zweifellos gefährlich,
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