Shardik
Sein Instinkt hatte ihn zu den Bergen gelenkt, die er, wenn das seine Absicht war, in zwei oder drei Tagen wohl erreichen mochte. Einmal in dem Gelände angelangt, würde es schwierig sein, ihn wieder einzufangen – das letztemal hatte es Menschenleben und das Niederbrennen eines teilweise bewohnten Landstrichs erfordert. Wenn aber nur rechtzeitig genügend Leute aufgetrieben werden konnten, würde er vielleicht kehrtmachen, und man könnte ihn, wenn wohl auch unter großer Gefahr, mit Hilfe von Lärm und Fackeln in ein Gehege oder einen anderen sicheren Platz treiben. Es würde tatsächlich eine verwegene Aufgabe sein, aber wie immer es ausgehen würde, vorerst hieß es, seinen Weitermarsch zu verhindern. Man mußte eine Botschaft abschicken, und es mußten Helfer kommen.
Als die Sonne zu sinken begann, verwandelte sich das Grün und Braun der langgestreckten, sanften Hügel zuerst in Blaßlila, dann in Violett und Grau. Aus Gras und Büschen stieg ein kühler, feuchter Duft auf. Die Eidechsen verschwanden, und kleine, fellbedeckte Tiere – Kaninchen, Mäuse und eine Art langschwänzige Springratte – kamen allmählich aus ihren Löchern. Die scharfen Schatten wurden weich, und ein fahles, leichtes Dämmerlicht stieg gleichsam aus dem Boden im unteren Teil der flachen Talmulden. Kelderek war nun sehr müde, und die schmerzende Stichwunde in seiner Hüfte quälte ihn. Da er sich darauf konzentrierte, weiter auf Shardik achtzugeben, vernahm er nur allmählich, wie ein Mann im Erwachen, Menschenstimmen in der Ferne und das Muhen von Vieh. Er blickte sich um und sah, weit entfernt zu seiner Linken in einem Tal, ein Dorf – Hütten, Bäume und den grau schimmernden Fleck eines Teiches. Er hätte es leicht völlig übersehen können, denn die niedrigen, unauffälligen Wohnstätten mit ihren unregelmäßigen und willkürlichen baum- und felsenähnlichen Konturen erschienen mit ihrem Gemisch schwärzlicher, grauer und erdbrauner Farben fast wie ein natürlicher Landschaftsteil. Was sein müdes Seh- und Hörvermögen in dieser Wildnis wahrnahm, war nur ein wenig Rauch, das Trappen des Viehs und die Rufe der Kinder in der Ferne, die es herumtrieben.
In diesem Augenblick blieb Shardik, einige hundert Meter vor Kelderek, stehen und legte sich, offenbar zu müde, um weiterzugehen, auf seinem Weg hin. Kelderek wartete und beobachtete den schwachen Schatten eines Grashalms neben einem Kieselstein. Der Schatten erreichte den Stein und wanderte darüber, ohne daß Shardik aufgestanden wäre. Schließlich machte sich Kelderek auf den Weg zum Dorf, dabei blickte er immer wieder hinter sich, um sich des Rückwegs zu vergewissern.
Bald kam er zu einem Pfad, der ihn zu den Viehhürden am Dorfrand führte. Dort gab es allgemeinen Aufruhr, die Hirtenjungen plapperten erregt, stritten, schrien plötzlich auf, schlugen, stießen und liefen dahin und dorthin, als wäre, seit Anbeginn der Welt, noch nie Vieh in ein Gehege getrieben worden. Die mageren Tiere rollten die Augen, sabberten, muhten, pufften und stießen einander die Köpfe über die Rücken, als sie sich in die Gehege drängten. Es ertönten klatschende Geräusche, und der Geruch von frischem Mist und ein Staubschleier schwebten schimmernd im Licht der untergehenden Sonne. Niemand bemerkte Kelderek, der eine Weile still zusah und aus der uralten, wohlbekannten Szene Trost und Ermutigung schöpfte.
Plötzlich erblickte ihn einer der Knaben, schrie laut auf, wies auf ihn, brach in Tränen aus und begann, mit angstverzerrter Stimme zu plappern. Die anderen folgten seinem Blick und starrten mit aufgerissenen Augen, einige wichen mit an den offenen Mund gepreßten Fingerknöcheln zurück. Das sich selbst überlassene Vieh setzte seinen Einzug in die Gehege fort. Kelderek lächelte und ging mit vorgestreckten Händen vorwärts.
»Hab keine Angst«, sagte er zu dem nächsten Jungen, »ich bin ein Reisender und ich – «
Der Junge wandte sich um und lief fort; daraufhin floh die ganze Gruppe zwischen die Hütten davon, bis keiner mehr zu sehen war. Kelderek ging verwundert weiter, bis er selbst zwischen den staubigen Häusern stand. Es war noch immer niemand zu sehen. Er blieb stehen und rief laut: »Ich komme aus Bekla. Ich muß den Dorfältesten sprechen. Wo ist sein Haus?« Es antwortete niemand, und er ging zur nächsten Tür und klopfte mit der flachen Hand auf die Holzbalken. Ein finster blickender Mann mit einer schweren Keule in der Hand öffnete die Tür.
»Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher