Shardik
dem Geräusch zu und verschwand.
Der Jäger erhob sich langsam und griff nach seiner verwundeten Schulter. Wie schrecklich auch die erlittene Angst ist, der Umschwung kann so rasch erfolgen, wie wenn man plötzlich aus tiefem Schlaf erwacht. Er fand seinen Bogen und schlich über die Böschung nach oben. Obgleich er wußte, was er gesehen hatte, wirbelten seine Gedanken gleich einem Boot im Wasserstrudel rund um den Mittelpunkt der Gewißheit. Er hatte einen Bären gesehen. Aber um Himmels willen, was für ein Bär? Woher war er gekommen? War er tatsächlich schon auf der Insel gewesen, als der Jäger am Morgen durch das seichte Wasser gewatet war, oder war er eine Ausgeburt seiner Furcht, eine Antwort auf sein Gebet? Hatte er vielleicht selbst, als er fast besinnungslos am Fuß der Böschung kauerte, eine verzweifelte Geisterreise unternommen, um das Geschöpf aus dem Jenseits herbeizurufen? Eines war jedenfalls sicher: Wo immer dieses Tier, das einen ausgewachsenen Leoparden mit einem Schlag durch die Luft schleuderte, hergekommen war, nun war es von dieser Welt, war Fleisch und Blut. Es würde ebensowenig verschwinden wie der Sperling auf dem Zweig.
Langsam hinkte er zum Fluß zurück. Die Gans war fort und der Pfeil mit ihr, aber das Ketlana lag noch dort, wo es gefallen war; er zog den Pfeil heraus, nahm es unter seinen gesunden Arm und wanderte damit zum Schilf. Dort erst überwältigte ihn der erlittene Schock. Er sank zitternd zu Boden und weinte lautlos am Flußufer. Lange Zeit lag er dort auf dem Bauch, ohne sich um seine Sicherheit zu kümmern. Und langsam – nicht plötzlich, sondern glimmend und auflodernd wie ein frisch entzündetes Feuer – wurde ihm klar, was – oder wer – es eigentlich war, das er gesehen hatte.
Wie ein Wanderer vielleicht in einer fernen Wildnis eine Handvoll Steine vom Boden aufhebt, sie oberflächlich untersucht und dann mit steigender Erregung zuerst vermutet, später für wahrscheinlich hält und dann sicher ist, daß es Diamanten sein müssen; oder wie ein Schiffskapitän auf großer Fahrt in fernen Gewässern zu einem unbekannten Vorgebirge kommt, sich eine Stunde lang mit der Führung des Schiffs befaßt und erst dann allmählich erkennt, daß er – er selbst – in den unentdeckten Fabelozean gesegelt ist, der seinen Vorfahren nur durch Legende und Gerüchte bekannt war – so überkam diesen Jäger allmählich die verblüffende, fast unglaubliche Erkenntnis dessen, was er gesehen haben mußte. Da beruhigte er sich, stand auf und begann, am Ufer zwischen den Bäumen auf und ab zu gehen. Endlich blieb er stehen, wandte sich der jenseits der Flußenge stehenden Sonne zu, hob seinen verletzten Arm und betete lange: es war ein wortloses, stilles Gebet voll zitternder Ehrfurcht. Dann hob er, immer noch verwirrt, das Ketlana auf und watete durch das Schilf, zurück über das seichte Wasser, bis er zu dem Floß kam, das er am Morgen festgemacht hatte; er machte es los und ließ sich stromabwärts treiben.
4. Der Großbaron
Es war spät am Nachmittag, als der Jäger Kelderek endlich in Sicht des Kennzeichens kam, das er suchte, eines hohen Anemonenbaums in einiger Entfernung oberhalb der stromabwärts liegenden Inselspitze. Die Äste mit ihren farnartigen, auf der Rückseite silbrigen Blättern hingen tief über dem Fluß und bildeten eine abgeschlossene Uferlaube am Wasser. Das Schilf davor war geschnitten worden, um einem sitzenden Wächter einen klaren Überblick über die Durchfahrt zu gewähren. Kelderek steuerte sein Floß mit einiger Mühe zur Kanaleinfahrt, blickte zum Anemonenbaum und hob, wie zum Gruß, sein Paddel. Es erfolgte keine Antwort, aber er erwartete auch keine. Er lenkte das Floß zu einem kräftigen, im Wasser stehenden Pfosten, tastete an ihm nach unten, fand das unter der Wasserfläche zum Ufer führende Tau und zog sich an Land.
Als er den Baum erreichte, zog er das Floß durch den Vorhang der hängenden Zweige. Im Inneren ragte ein kurzer Holzpier vom Ufer vor, und darauf saß ein Mann, der zwischen Blättern auf den Fluß hinausstarrte. Hinter ihm saß ein zweiter Mann, der ein Netz ausbesserte. An dem verborgenen Kai waren noch vier oder fünf andere Flöße festgemacht. Der Blick des Ausguckmannes fiel auf das einzelne Ketlana und die wenigen neben Kelderek liegenden Fische und heftete sich dann auf den müden, blutbeschmierten Jäger.
»Nun denn, Kelderek, Kinderspielfreund. Du hast wenig vorzuweisen, weniger noch als gewöhnlich.
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